Der Europäische Green Deal – weit mehr als nur CO₂ Reduktion - über die Auswirkungen auf die Chemieindustrie

Katharina Kittelberger

Industry Insights

Chemikalien sind ein wesentlicher Bestandteil unseres täglichen Lebens. Nicht nur sorgen sie für unser Wohlbefinden, sondern auch für den hohen Lebensstandard und Komfort der modernen Gesellschaft.
Der im Jahr 2019 von der Europäischen Kommission verabschiedete Europäische Green Deal umfasst neben dem umfänglichen Punkt der Dekarbonisierung, welcher in der breiten Öffentlichkeit primär diskutiert wird, auch Maßnahmen gegen die Produktion und Verwendung von Chemikalien die sowohl die Umwelt als auch unsere Gesundheit schwer schädigen. 

Eben dieser Aspekt wurde von der Öffentlichkeit bislang kaum wahrgenommen und auch von vielen, insbesondere mittelständischen Unternehmen der chemischen Industrie wenig thematisiert. Jedoch sind die Folgen des Europäischen Green Deals besonders für letztere dabei zum Teil weitreichenderer als die in erster Linie angestrebte Umstellung auf eine CO₂ neutrale Produktion. 

Aus diesem Grund beleuchtet 5-HT genau diese bisher im Schatten des Europäischen Green Deal gelegenen Thematiken. Was Mikroplastik in Kosmetika mit dem Konzept zu tun hat wird dabei ebenso überraschend sein, wie die Rolle von Regenjacken. Trotzdem verdeutlicht beides, dass der Europäische Green Deal weit mehr als nur eine CO₂ Reduktion für die Chemieindustrie bedeutet.

Zustandekommen des Europäischen Green Deals 

Klimawandel und Umweltzerstörungen stellen derzeit eine existenzielle Bedrohung für unserer Welt dar. Wie ernst die Lage mittlerweile auch in Europa ist, verdeutlichen vergangene Katastrophen wie Starkregenereignisse oder Waldbrände. Der Europäische Green Deal soll der Klimakrise nun entgegenwirken. Genauer wurde dieser im Dezember 2019 von der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vorgestellt. Im Kern zielt das grüne Maßnahmenpaket zur Dekarbonisierung und nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung auf ein klimaneutrales Europa bis 2050 ab. 

In diesem Zusammenhang betont von der Leyen, dass Solidarität ein integraler Bestandteil des Europäischen Green Deals sei, wonach niemand zurückgelassen werde. Doch verstärkte Klimaziele bedeuten gleichzeitig Regulierungen, Einschränkungen und Verbote – wovon die Chemieindustrie nicht ausgenommen ist. 

Wieso sich ein genauerer Blick auf die Chemieindustrie lohnt 

Im Jahr 2018 war Europa mit einem erwirtschafteten Umsatz von 16,9 Prozent der zweitgrößte Chemikalienhersteller. Die Chemikalienproduktion stellte somit den viertgrößten Industriezweig der EU dar, in dem rund 1,2 Millionen Menschen direkt beschäftigt sind. Die Tendenz für die Verwendung von Chemikalien in Verbraucherprodukten dürfte auch weiterhin zunehmen, was voraussichtlich zu einer Verdoppelung der weltweiten Chemikalienverwendung bis 2030 führt. 

Obgleich die Rechtsvorschriften der EU hochentwickelt sind, müssen diese noch weiter gestärkt werden, denn die meisten Chemikalien haben gefährliche Eigenschaften welche die Umwelt sowie die menschliche Gesundheit über Generationen hinaus schädigen können. So nimmt der Europäische Green Deal entsprechend Einfluss auf die Chemikalienpolitik der EU. 

Die EU-Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit 

Mit dieser durch die Europäische Kommission verabschiedeten Strategie im Oktober 2020 wurde der erste Schritt in Richtung einer schadstofffreien Umwelt gesetzt. Diese neue Strategie ist eine Hauptverpflichtungen des Europäischen Green Deals, denn die Umweltverschmutzung durch Chemikalien ist eine der wesentlichen Ursachen für die Gefährdung der Erde, da sie planetare Krisen wie den Klimawandel, die Zerstörung von Ökosystemen und den Verlust von Biodiversität beeinflusst und verstärkt.

Folglich müssen Chemikalien, Werkstoffe und Produkte von der Herstellung bis zum Ende ihres Lebenszyklus inhärent sicher und nachhaltig gemacht werden, indem die schädlichsten Eigenschaften vermieden und die Auswirkungen auf das Klima, den Ressourcenverbrauch, Ökosysteme und Biodiversität so gering wie möglich gehalten werden. 

Die giftfreie Hierarchie - eine neue Hierarchie im Chemikalienmanagement

Gleichzeitig sollen Menschen vor gefährlichen Chemikalien geschützt werden, womit ein Verbot von schädlichen Chemikalien in Verbraucherprodukten wie beispielsweise Spielzeug, Babyartikeln, Kosmetika, Wasch- und Reinigungsmitteln, Lebensmittelkontaktmaterialien sowie Textilien einhergeht. Zusammenfassend soll so sichergestellt werden, dass alle verwendeten Chemikalien zukünftig sicherer und nachhaltiger sind.

Sicherheit und Nachhaltigkeit – was muss weg? 

Im Mittelpunkt der EU-Chemikalienstrategie steht, dass die Vorteile von Chemikalien ausgeschöpft werden, ohne dabei dem Planeten oder dem Menschen heute wie auch in Zukunft zu schaden. Neben der Minimierung bedenklicher Stoffe wird der Kombinationseffekt von Chemikalien (Cocktail-Effekt) berücksichtigt. Ebenso soll eine Einführung von Informationsanforderungen dafür sorgen, dass Herstellern und Verbrauchern der Zugang zu den in Produkten enthaltenen Chemikalien sichergestellt wird. 

Doch primär bedeutet die Chemikalienstrategie eine schrittweise Einstellung der Verwendung von schädlichen Stoffen wie beispielsweise endokrinen Disruptoren, genauer Chemikalien, die das Immunsystem und die Atemwege beeinträchtigen. Auch bewusst hergestelltes Mikroplastik wie beispielsweise zur Verwendung von Mikrokügelchen in Kosmetika, wird zukünftig nicht mehr produziert, denn: 

"Mikrokunststoffe wurden in Meeres-, Süßwasser- und terrestrischen Ökosystemen sowie in Lebensmitteln und im Trinkwasser gefunden. Ihre fortlaufende Freisetzung trägt zu einer permanenten Verunreinigung unserer Ökosysteme und Nahrungsketten bei."
- European Chemicals Agency (ECHA), 2020

Weil durch das Hinzufügen von Mikroplastik in Produktgruppen wie zum Beispiel Düngemittel, Kosmetika oder Haushalts- und Industriereiniger jährlich etwa 42.000 Tonnen Mikroplastik in die Umwelt gelangen, haben zahlreiche EU-Mitgliedsstaaten bereits nationale Verbote für eine bewusste Verwendung von Mikroplastik eingeführt. Zwar laufen die Verhandlungen für ein EU-weites Verbot noch bis in das kommende Jahr 2022, doch Prognosen zeigen bereits, dass ein positiver Ausgang der Verhandlungen verhindern würde, dass über einen Zeithorizont von zwanzig Jahren etwa 500.000 Tonnen Mikroplastik in die Umwelt gelangen. Nichts desto trotz würden für Unternehmen dabei geschätzte Kosten von bis zu 19,1 Milliarden Euro anfallen.
Daneben werden auch persistente Stoffe wie Per- und Polyfluoralkylsubstanzen (PFAS) verboten, insofern sie nicht nachweislich für das Allgemeinwohl unverzichtbar sind.

Zwar sollen verschiedene Innovations- und Investitionsmaßnahmen die Chemieindustrie bei diesem Wandel begleiten, doch insbesondere letzteres Verbot wird bisher ungeahnte Auswirkungen auf die europäische Chemieindustrie haben. 

Per- und Polyfluoralkylsubstanzen (PFAS) – jeder nutzt sie, niemand kennt sie

PFAS sind eine Gruppe künstlich hergestellter chemischer Verbindungen, die typischerweise verwendet werden, um wasser-, öl- und schmutzabweisende Produkte herzustellen. Sie sind so effektiv, dass die heute in einer Vielzahl von Branchen auf der ganzen Welt hergestellt werden. Zu den wichtigsten Industriezweigen, die PFAS verwenden, gehören neben der Luft- und Raumfahrt die Verteidigung, Automobilbau, Luftfahrt, Textilien, Leder und Bekleidung, Bau- und Haushaltsprodukte, Elektronik, Brandbekämpfung, Lebensmittelverarbeitung sowie medizinische Artikel. 

"PFAS sind aufgrund ihrer besonderen technischen Eigenschaften jahrzehntelang in zahlreichen industriellen Prozessen und Verbraucherprodukten eingesetzt worden. Sie sind schwer abbaubar und mittlerweile überall nachweisbar - in der Umwelt, in der Nahrungskette und im Menschen."
- Bundesinstitut für Risikobewertung, 18.09.2020, Mitteilung Nr. 042/2020

Ohne Zweifel sind sicherere und nachhaltigere Chemikalien eine andauernde Notwendigkeit sowie eine große wirtschaftliche Chance. In diesem Zusammenhang verbot die Europäische Kommission bereits jetzt den Einsatz der PFAS-Stoffgruppe in Lebensmittelverpackungen und Feuerlöschschäumen bis Ende 2022. Weil auch weitere Verbote angekündigt wurden, lässt sich anhand dieses Beispiels bereits jetzt erahnen, was der gesamten europäischen Chemieindustrie potenziell bevorsteht.

Was tun, wenn es regnet? Ein Beispiel aus dem Alltag 

Die Fähigkeit von PFAS sowohl Wasser als auch Schmutz abzuweisen wird in der Textilindustrie, genauer im Bereich Outdoor-Bekleidung, besonders geschätzt. Die Substanzen werden unter anderem für die Beschichtung von Regenjacken eingesetzt, wobei eine Analyse der Verwendung von PFAS in Textilien ermittelt hat, dass auch vollständig perfluorierte Polymere wie PTFE zur Gruppe der PFAS zählen. 
Eben diese PFTE haben die Eigenschaft atmungsaktiv zu sein, was Ausgangspunkt für zahlreiche Produktentwicklungen wurde. Die in der EU produzierenden Outdoor-Marken-Hersteller stehen mit einem Verbot von PFAS somit vor bislang unlösbaren Herausforderungen. 

Obwohl es bereits fluorfreie Alternativen wie beispielsweise Kohlenwasserstoffe, Silikone, Dendrimere, Polyurethan oder Nanomaterialien auf dem Markt gibt, so bedeutet ein Verzicht von PFAS ohne eine von der Qualität her deckungsgleiche Alternative für die europäische Outdoor-Produktentwicklung langfristig nur eines: Greenwashing.  

Greenwashing: Verlagerung der Probleme ins Ausland  

Zwar betont die EU, dass die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie durch Änderungen des Chemikalienrechts unterstützt wird, womit die gleichen Wettbewerbsbedingungen für europäische und außereuropäische Marktteilnehmer vorsehen werden. Doch zukünftig wird höchstwahrscheinlich das Phänomen eintreten, dass die Produktion CO₂ intensiver Produkte in Länder verlagert wird, in denen keine strengen EU Green Deal Regulierungen herrschen. 

"Unter Greenwashing versteht man die Vermittlung eines falschen Eindrucks oder die Bereitstellung irreführender Informationen darüber, dass die Produkte eines Unternehmens umweltfreundlicher sind. Greenwashing gilt als unbegründete Behauptung, mit der die Verbraucher in dem Glauben gelassen werden, dass die Produkte eines Unternehmens umweltfreundlich sind."
- Will Kenton, Investopedia, 23.01.2021

Somit könnten zunehmende Importe sowie der Wegfall von einheimischer Produktion dazu führen, dass lediglich die Emissionen in Europa reduziert werden. 

Zusammenfassung: Europäischer Grüner Deal gleich grüne Chemie?

Chemikalien gehören zu den Bausteinen, die für eine klimaneutrale Wirtschaft benötigt werden. Weil die Herstellung von Chemikalien jedoch gleichzeitig ein energie- und CO₂-intensiver Industriezweig ist, bedeutet Effizienz eine Umstellung auf Chemikalien und Produktionstechnologien, die weniger Energie benötigen. Demzufolge benötigt der europäische Grüne Deal nicht weniger, sondern die richtige Chemie. 

Ohne Zweifel hat die Europäische Kommission mit der Verabschiedung der Chemikalienstrategie im Oktober 2020 zu Denkanstößen im Bereich der grünen Chemie geführt. So fühlte sich auch eines der Startups aus dem Netzwerk von 5-HT angesprochen: 

"Als die Europäische Kommission vergangenes Jahr ankündigte, dass Wasserstoff ein entscheidender Faktor in der europäischen Entwicklungsstrategie sein wird, empfanden wir das als Call-to-Action."
- Aleksandrs Parfinovičs, Chief Executive Officer bei Naco Technologies 

Auch die European Chemicals Agency (ECHA) hat sich darauf verpflichtet, mit ihren wissenschaftlichen und regulatorischen Fachkenntnissen, Datenbanken, digitalen Instrumenten, Netzwerken und praktischen Erfahrungen mit der Chemikalienregulierung einen Beitrag zum Europäischen Green Deal zu leisten. Mit der Ausweitung ihrer Umweltzertifizierung auf das EU-System für die Umweltmanagement und -betriebsprüfung (EMAS) soll die ECHA bis 2030 klimaneutral werden. 

Es bleibt abzusehen, ob der Europäische Green Deal die Chemieindustrie durch neue Innovationen wie beispielsweise Wasserstofftechnologien beflügeln wird, oder ob die Kombination aus Regulierungen, Einschränkungen und Verboten doch eine beschwerende Wirkung haben wird. 

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