Warum Gesundheitsapps einen besseren Zugriff auf Vitaldaten brauchen
Judith Hillen
Ob es um psychische Gesundheit, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder andere chronische Krankheiten geht: Effektive digitale Gesundheitsanwendungen, die auf die individuellen Bedürfnisse der Nutzer eingehen, brauchen den Zugriff auf Vitaldaten. Das Berliner Startup KENKOU, das Teil des Netzwerks von 5-HT ist, hat deshalb ein Software Development Kit (SDK) entwickelt, mit dem sich kardiovaskuläre Vitaldaten und dadurch auch das individuelle Stresslevel des Nutzers messen lassen. Im Interview mit 5-HT erklärt Managing Director Matthias Puls, für welche Gesundheitsanwendungen es sich lohnt, dieses SDK zu integrieren, und wie KENKOU damit einen Beitrag zu einer besseren Prävention von Stress und Herz-Kreislauf-Erkrankungen leisten will.
Matthias Puls, Managing Director von KENKOUWarum ist Stress so ein großes gesundheitliches Problem?
Stress ist die neue Volkskrankheit. Das ist besonders deshalb problematisch, weil Stress als Einfallstor für schwere Herz-Kreislauf-Erkrankungen und viele andere Krankheiten gilt. Letztlich ist Stress nichts anderes als eine Belastung des Körpers und der Psyche. Wenn diese Belastung chronisch wird, reagiert der Körper mit chronischen Entzündungen, was wiederum zu chronischen Krankheiten führen kann. Gerade die kardiovaskulären Krankheiten, die dabei entstehen können, sind ein großes gesundheitliches Problem – nicht nur, weil sie der größte Todestreiber weltweit sind, sondern auch, weil die Kosten für das Gesundheitssystem im Krankheitsverlauf stark ansteigen.
Wenn wir eine bessere Stressprävention betreiben und dadurch schwere Herz-Kreislauf-Erkrankungen verhindern, können wir viele Leben retten und gleichzeitig das Gesundheitssystem entspannen.
Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass sowohl Arbeitgeber als auch Krankenkassen ein großes Interesse daran haben, Stress präventiv zu begegnen.
Was braucht es für eine bessere Stressprävention?
Weil Prävention im Normalfall viel Zeit und Geld kostet, können digitale Medizinprodukte dazu beitragen, die Kosten im Rahmen zu halten. Eine bessere Stressprävention erreichen wir aber nicht mit einer One-Size-Fits-All-Lösung, sondern nur mit individualisierten Angeboten, denn eine gute digitale Lösung muss dazu in der Lage sein, die Bedürfnisse der Nutzer zu erkennen und die vorgeschlagenen Interventionen individuell anzupassen. Außerdem sind Anti-Stress-Lösungen nur dann erstattungsfähig, wenn ein positiver Versorgungseffekt belegt werden kann. Dafür fehlt bei vielen digitalen Lösungen bislang allerdings der Zugriff auf relevante Vitaldaten der Nutzer. Wir bei KENKOU sind überzeugt, dass die Entwickler von digitalen Gesundheitsanwendungen eine einfache und niedrigschwellige Möglichkeit brauchen, um diese Vitaldaten zu erfassen und ihre Lösungen dadurch effektiver zu machen.
Wie macht KENKOU Stress messbar?
Nach der Gründung von KENKOU im Jahr 2014 haben wir zunächst ein Wearable entwickelt, das die körperliche Belastung mittels EKG misst. Bald darauf haben wir uns jedoch entschieden, Stress stattdessen mit einer Software messbar zu machen. Der große Vorteil daran ist, dass wir keine besonderen Wearables brauchen – der Nutzer legt seinen Finger einfach eine Minute lang auf die Smartphone-Kamera, über die wir mit EKG-Genauigkeit die Pulswelle ausmessen. Dabei analysieren wir unter anderem den wissenschaftlich anerkannten Stress-Biomarker Herzratenvariabilität (HRV), an dem man die Regelmäßigkeit des Herzschlags und dadurch die Entspannungsfähigkeit des Körpers ablesen kann. Auf dieser Grundlage haben wir Ende 2019 unsere App Stress Guide gelauncht, eine B2B2C-Lösung für Stress- und Burnout-Prävention, über die der Nutzer sein individuelles Stresslevel messen und daraufhin an Meditationen und Mindfulness-Übungen teilnehmen kann. Diese App, die als Medizinprodukt zertifiziert ist, steht immer noch für Krankenkassen oder Arbeitgeber zur Verfügung. Mittlerweile fokussieren wir uns aber darauf, unsere Technologie als Software Development Kit allgemein zugänglich zu machen. Denn als letztes Jahr die ersten Startups auf uns zukamen und uns fragten, ob sie unsere Messmethoden in ihre digitalen Gesundheitsanwendungen integrieren könnten, haben wir erkannt, dass wir die Stressprävention am besten vorantreiben können, wenn wir nicht auf eine eigene App setzen, sondern wenn wir unsere Software in viele verschiedene Gesundheitsanwendungen hineinbringen.
Die Smartphone-Kamera misst Vitaldaten des NutzersFür welche Gesundheitsanwendungen lohnt es sich, euer SDK zu integrieren?
Prinzipiell ist unsere Messung des individuellen Stresslevels für alle Lösungen in den Bereichen Gesundheit, Fitness und Wellness relevant – zum Beispiel im Bereich Mental Health, bei chronischen Schmerzen und bei chronischen Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die Vorteile für unsere Kunden liegen auf der Hand: Wir ermöglichen es ihnen, durch die Erfassung kardiovaskulärer Vitaldaten holistische Produkte zu entwickeln und dadurch Evidenz, Erstattungsfähigkeit und letztlich echte Mehrwerte für die Nutzer ihrer Apps zu schaffen. Die durch unsere Lösung erfasste Herzratenvariabilität kann zudem bei jeder Therapie den jeweiligen Erfolg transparent machen. Dies ist ebenso für Lösungen jenseits von Mental Health sehr spannend.
Was sind die nächsten Ziele für KENKOU?
Vor allem wollen wir neue spannende Kunden gewinnen, die unser SDK gerne in ihre Anwendungen integrieren möchten. Dabei wollen wir auch gerne mehr darüber lernen, von welchen zusätzlichen Features unsere Kunden profitieren könnten. Über die Smartphone-Kamera könnten wir in Zukunft zum Beispiel auch Vorhofflimmern, Blutsauerstoffsättigung und andere kardiovaskuläre Vitaldaten erfassen.
Dadurch wollen wir letztlich einen Beitrag zur Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen leisten – so frühzeitig und niedrigschwellig, wie es geht, damit jeder ein Gefühl dafür bekommt, wie es dem eigenen Körper geht, und sich um seine Gesundheit kümmert, bevor es zu spät ist.
Wie kann das Netzwerk von 5-HT euch auf eurem weiteren Weg unterstützen?
Wir freuen uns auf den Austausch mit anderen Akteuren aus dem Gesundheitsbereich – besonders auf den Austausch mit Unternehmen, für die unser SDK interessant ist und mit denen wir gemeinsame Projekte auf die Beine stellen können. Außerdem sprechen wir sehr gerne mit potenziellen strategischen Investoren, zum Beispiel mit Pharmakonzernen oder Rückversicherungen, für die es möglicherweise Sinn macht, sich an uns zu beteiligen.
Wie schätzt du die Zukunft digitaler Gesundheitsanwendungen ein?
Ich gehe davon aus, dass modulare Strukturen bei der Entwicklung von Gesundheitsapps in Zukunft eine größere Rolle spielen werden: Es wird wesentlich mehr SDKs geben, denn es muss schließlich nicht alles immer wieder neu erfunden und entwickelt werden. Die Aufgabe von App-Entwicklern wird es vielfach nur noch sein, diese verschiedenen Module in einem sinnvollen Rahmen miteinander zu verknüpfen. Außerdem glaube ich, dass die Zukunft in Plattformen liegt, die einen holistischen Blick auf den Körper ermöglichen.
Letzten Endes wollen die Nutzer nicht hundert verschiedene Gesundheitsapps auf dem Smartphone haben, sondern lieber eine Lösung, die möglichst viele Daten und Anwendungen integriert, sodass am Ende ein ganzes Ökosystem in einer Plattform abgebildet wird.
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