Virtuell Menschen helfen – VR-Technologie für Expositionstherapien nutzen
Ronja Schrimpf
Einkaufen im Supermarkt, U-Bahn fahren, einen Vortrag halten oder aber ein Buch in der Bibliothek ausleihen. Alles ganz normale Situationen. Oder?
Für Menschen mit psychischen Erkrankungen wie Angststörungen oder Depressionen können diese vermeintlich harmlosen Situationen eine große Herausforderung darstellen. Mit einer VR-basierten Therapiesoftware will das Startup neomento Konfrontations- bzw. Expositionstherapien für Patienten wie Therapeuten verbessern und die Therapie gleichzeitig effektiver, effizienter und kostengünstiger gestalten. Im Interview mit 5-HT erzählt Mitgründer und CEO Jens Klaubert, welche Vorteile eine virtuelle Konfrontation gegenüber einer realen bieten kann und was neomentos Lösung von anderen abhebt.
neomento Mitgründer und CEO Jens Klaubert
Virtuell im Supermarkt einkaufen – Wie geht das?
„Kurz gesagt machen wir Konfrontationstherapie für Patienten mit Angststörungen, Suchterkrankungen, Depressionen und Ähnlichem in Virtual Reality. Wir haben dafür eine Therapiesoftware entwickelt, um Patienten in VR mit ihren Ängsten oder mit problembehafteten Situationen zu konfrontieren. Das nennt sich Expositionstherapie und wird heutzutage idealerweise in der realen Umwelt gemacht“, erzählt Jens Klaubert. Er ist Mitgründer von neomento und stammt selbst aus dem Business Development- und Finanzierungsbereich. neomento hebt diese Art der Therapie mit ihren VR-Szenarien und der umfangreichen Integration von physiologischen Parametern des Patienten auf ein neues Level der Möglichkeiten.
„Wir haben ein umfangreiches Portfolio an möglichen VR-Szenarien entwickelt, die während einer Therapie eingesetzt werden können“, erläutert Jens, „Wir haben Szenarien innerhalb von Gebäuden, wie beispielsweise einen Seminarraum, in dem der Patient einen Vortrag halten soll, oder aber eine Bibliothek, in der der Patient mit den Angestellten interagieren muss. Wir haben aber auch Szenarien außerhalb von Gebäuden, zum Beispiel auf öffentlichen Plätzen oder im öffentlichen Nahverkehr.
neomentos VR-Szenario Vortrag im Konferenzraum
Unser Ansatz ist, dass man neomentos Software für möglichst viele Patienten einsetzen kann. Daher haben wir alltägliche soziale Situationen für unser Portfolio gewählt, die für viele Menschen herausfordernd sind, auch dann, wenn sie keine Angststörungen haben. Deshalb ist unsere Software auch für andere Erkrankungen hilfreich, zum Beispiel für Depressionen, da die soziale Interaktion bei unserer Software im Vordergrund steht.“
Virtuell einen Vortrag halten und danach in die Bibliothek – Wie funktioniert das Portfolio?
„Alle Szenarien sind modular aufgebaut, aber können auch miteinander verbunden werden, sodass am Ende eine virtuelle Welt entsteht. Diese Welt ist gespickt mit vielen sozialen Interaktionen und Herausforderungen.“ Dabei ist neomentos Software nicht nur modular in Bezug auf die einzelnen Szenarien: Auch die Szenarien selbst können unterschiedlich aufgebaut werden. So ergeben sich innerhalb der Therapien viele Möglichkeiten, die virtuelle Welt zu nutzen – und damit auch individuell auf die Schwierigkeiten und Probleme eines jeden Patienten einzugehen.
„Als Therapeut kann man so ein Szenario mit jedem Patienten auf ganz unterschiedliche Weise nutzen, je nachdem, was dieser Patient für eine Symptomatik oder Störungsbild vorweist. Wir haben mit unserer Software eine der vielseitigsten, wenn nicht die vielseitigste VR Therapie am Markt geschaffen. Allein die Auswahl der Szenarien, der Interaktionen und Möglichkeiten, diese miteinander zu kombinieren und an die individuellen Bedürfnisse eines Patienten anzupassen, gibt Therapeuten die Chance, die Therapie in großem Maße zu variieren.“
Virtuell U-Bahn fahren in der Praxis oder in der Klinik – Ginge das nicht auch im Realen?
neomento bringt die Expositionstherapie direkt in die Klinik oder in die Praxis des Psychotherapeuten. Denn auch wenn diese Art der Therapie teilweise schon in einem realen Umfeld durchgeführt wird, ist sie sehr aufwendig, teuer und oftmals erst gar nicht umsetzbar.
„Viele Kliniken liegen im ländlichen Raum und sind daher sehr eingeschränkt in dem, was sie mit den Patienten im realen Umfeld machen können“, erläutert Jens, „Schon der Supermarkt kann da schwierig werden. Fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln wie der U-Bahn ist oft gar nicht erst möglich.“ Natürlich ist es auch zeit- und kostensparender, wenn sich Therapeut und Patient nicht erst zum nächsten U-Bahnhof begeben und Fahrkarten kaufen müssen.
„Patient und Therapeut können also direkt in der Praxis oder der Klinik die jeweilige Situation erleben, sei es im Supermarkt oder in der U-Bahn. Der Patient trägt die VR-Brille und der Therapeut hat einen Computer vor sich, mit dem er die Situation steuern kann. Der Patient kann so soziale Interaktionen erleben, ohne dabei den Raum je verlassen zu müssen.“
Virtuell ein Buch ausleihen – Wo liegt der Vorteil?
Einer der entscheidenden Unterschiede neomentos zu den Konkurrenten sind die Biodaten, die das Startup in seine Software integriert hat: „Wir messen zusätzlich während der Therapie noch diverse Biodaten des Patienten, beispielsweise die Herzrate, die Atmung oder ob der Patient schwitzt. Diese Informationen geben wir direkt an den Therapeuten weiter, damit er eine objektive Einschätzung über den Stresszustand des Patienten treffen kann. Nach der Therapie werden die Biodaten außerdem noch über unsere Software ausgewertet. Der Therapeut bekommt also am Ende einen Report, was in VR genau passiert ist und wie die passenden Biodaten des Patienten dazu aussahen.
Aus neomentos Sicht bietet die Analyse der Biodaten einen großen Mehrwert für eine Expositionstherapie, da sie ein subjektives Therapieempfinden objektiv mit Zahlen belegen kann und diese dann auch vergleichbar macht.
Virtuell öffentliche Plätze besuchen – Das fühlt sich doch ganz anders an!
„Oft ist das die erste Aussage, die wir von neomento hören“, lacht Jens, „Aber man muss bei der Frage, ob sich das virtuell nicht anders anfühlt, zwei entscheidende Dinge beachten: Erstens nimmt ein Patient, der beispielsweise eine soziale Angststörung hat, Situationen ganz anders wahr. Für ihn ist schon das Einkaufen im Supermarkt eine Herausforderung, die die meisten Menschen so nicht kennen. Für diese Patienten ist es in einer solchen Stresssituation oft gar nicht möglich zu unterscheiden, ob die Situation gerade tatsächlich im realen oder virtuellen Leben passiert.
Und zweitens ist unser Gehirn sehr visuell. Das bedeutet, dass visuelle Reize viele andere Reize überlagern. Wir können dem Gehirn also ziemlich gut vorgaukeln, dass die Situation real ist – das nennt sich dann Immersion. Je höher der Immersionsgrad, desto mehr taucht der Patient in die virtuelle Umgebung ein. Ziel einer VR-Simulation wie unserer ist es, die sogenannte ‚presence‘ zu erreichen, bei der der Patient nicht mehr unterscheiden kann, ob er sich in der virtuellen oder in der realen Welt bewegt. Und das können wir mit unserer Software ermöglichen.“
neomento erreicht mit seiner VR-Simulation außerdem die notwendige therapeutische Effektivität, die bereits wissenschaftlich belegt werden konnte – und steht damit einer realen Expositionstherapie in nichts nach.
Virtuell neomentos Geschichte erfahren – Wer steckt hinter dem Startup?
Erste Versuche einer Expositionstherapie mit VR gab es schon vor ungefähr 20 Jahren, als Kriegsveteranen mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung mit ihren problembehafteten Szenarien konfrontiert wurden. Erst vor circa fünf Jahren erreichte der Reifegrad der VR-Technologie jedoch einen Status, mit dem sie auch auf einem Markt außerhalb von Forschung, Militär und Ähnlichem eingesetzt werden konnte. Daher muss sich neomento bisher um nicht allzu viele Konkurrenten Gedanken machen.
neomentos Idee entstand bereits 2017 am Helmholtz-Zentrum in Magdeburg, allerdings von Anfang an mit einer Ausrichtung auf eine spätere Markttauglichkeit. „Vielen Startups aus diesem Bereich fehlt die Praxistauglichkeit, die wir von Beginn an mitgedacht haben. Wir haben zwar einen starken Forschungshintergrund, aber haben das Projekt von Beginn an mit dem Ziel umgesetzt, später ein alltagstaugliches Tool für Therapeuten anbieten zu können. Für Therapeuten bedeutet das beispielsweise maximal einen Tag Schulung, den sie für die uneingeschränkte Nutzung unserer Software benötigen.“
Zur tatsächlichen Gründung kam es dann Anfang 2020. Mit fünf Gründern ist neomento fachlich breit aufgestellt. Von der technischen Seite mit Computer Science und Bioinformatik unter CTO Dr. Adam Streck über die kreative Seite mit Konzeption und Produktentwicklung unter CPO Philipp Stepnicka bis hin zur kommerziellen Seite des Business unter CEO Jens Klaubert. Auch auf Forschungsseite ist neomento mit Prof. Thomas Wolbersaus dem Bereich der Neurowissenschaften und VR, sowie dem Mediziner Johannes Achtzehn gut aufgestellt.
Team neomento: CTO Dr. Adam Streck, CPO Philipp Stepnicka, CEO Jens Klaubert (v.l.n.r.)
Virtuell neomento kennenlernen – Was sind eure Pläne und Ziele?
„Für uns sind gerade insbesondere Investoren mit smart money interessant, die also schon Expertise im Bereich Gesundheitswesen vor allem in Deutschland haben. Außerdem suchen wir neue Mitarbeiter in vielen verschiedenen Bereichen. Als potenzielle Kunden und Kooperationspartner sind für uns auch Kliniken und Therapeuten von Interesse, aber auch Forschungskooperationen und Universitäten, mit denen wir Produkte für neue Störungsbilder entwickeln und klinisch validieren können“, erzählt Jens.
Aktuell befindet sich neomento kurz vor der Zulassung als Medizinprodukt in der EU. Die Software gibt es bisher nur auf Deutsch, aber – so verrät Jens – neomento plant bereits im nächsten Jahr, weitere Produktsprachen umzusetzen und dann Schritt für Schritt den europäischen Markt zu erobern. Der ist nämlich nach der Bewältigung aller regulatorischen Herausforderungen in Deutschland hoch-attraktiv.
Diese regulatorischen Herausforderungen sieht Jens aber nicht per se als schlecht: „Natürlich sind die regulatorischen Hürden besonders im medizinischen Bereich sehr hoch, vor allem für Startups. Gerade im Digital Health Sektor haben wir aber in Deutschland mit dem Digitale-Versorgung-Gesetz die Chance, europaweit eine Vorreiterrolle zu übernehmen. Deutschland wird bereits heute für sein Gesundheitssystem gelobt und bewundert. Wenn wir nun auch noch den deutschen Gesundheitsmarkt fit für die Zukunft machen und als erste digitale Lösungen breit implementieren können, dann könnte unser Gesundheitssystem auch zukünftig Vorreiter bleiben. Für mich sind die deutschen und EU-weiten Regulatorien eine Qualitätsschranke, eine Art Markteintrittsbarriere. Und neomentos Ansatz ist es, ein so gutes Produkt zu bauen, dass wir alle regulatorischen Voraussetzungen problemlos erfüllen und sie sogar zu unserem Vorteil nutzen können. Das ist unsere Einstellung als Startup.“
Virtuell ein Netzwerk aufbauen – neomento unterwegs
Im Rahmen der Bitkom Digital Transformation Week besuchte neomento auch die Digital Health Conference, die von 5-HT- Strategy & Ecosystems Development Manager Marco Majer moderiert wurde. Natürlich nutzte neomento die Gelegenheit, die eigene Idee zu pitchen: „Für uns war es eine tolle Gelegenheit, unsere Vision ausgereifter VR Therapie einem großen interessierten Publikum vorzustellen! Die Veranstaltung war exzellent organisiert und wurde technisch super umgesetzt. Auch die Zusammenstellung aller Beteiligten unseres Slots hat mir sehr gut gefallen.“
Die Digital Health Conference ist eine Gelegenheit für neomento, das eigene Netzwerk zu erweitern und bekannter zu werden. Aber auch die Zusammenarbeit mit 5-HT soll dabei helfen. „Wir erhoffen uns generell eine höhere Sichtbarkeit von neomento und Kontakte zu relevanten Playern im Digital Health-Bereich wie Krankenkassen, Leistungserbringern und potenziellen Kooperationspartnern“, erzählt Jens und fügt mit einem Lächeln hinzu, „Natürlich wäre es auch klasse, wenn auch der ein oder andere Investor über 5-HT von neomento erfährt.“
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