Die Supermacht des ‚Röntgenblicks‘ – Anlagen digital statt analog prüfen

Ronja Schrimpf

Startup Stories

Was IT-Lösungen und Standards im Bereich der digitalen Bildgebung und Kommunikation angeht, hinkt die Industrie der Medizin um Jahrzehnte hinterher. Denn im Gesundheitswesen hat sich ein Standard durchgesetzt, der herstellerunabhängig, schnell und genau Bilddaten auswertet und kommuniziert: Der DICOM-Standard. In der Industrie beginnt die Suche nach effizienten IT-Lösungen erst nach und nach – Mit dem Prüfbildmanagementsystem JiveX NDT bietet das Startup VISUS Industry IT GmbH eine Antwort für diese Suche. Welche Möglichkeiten ein so effizienter Blick in eine Industrieanlage bietet, verrät Mitgründer und Managing Director Peter Rosiepen im Interview mit 5-HT.

VISUS Industry IT TeamVISUS Industry IT Team

Die Erfolgsgeschichte der Medizin in der Industrie nachvollziehen

„Angefangen hat alles mit der VISUS Health IT GmbH, einem Unternehmen aus dem Gesundheitswesen, das sich um die Diagnostik von Menschen kümmert. In der Medizin gibt es einen IT-Standard namens DICOM – Digital Imaging and Communication in Medicine – der international anerkannt ist. Es wird kein Gerät oder eine IT-Lösung im Gesundheitswesen verkauft, das nicht DICOM-fähig ist, denn die Anwender – also die Ärzte – haben darauf bestanden, ein herstellerunabhängiges Dateiformat zu haben, um Daten auszutauschen, auszuwerten und langfristig zu archivieren. Für solche Anforderungen brauchen wir einen IT-Standard und keine proprietären Daten von unterschiedlichen Herstellern.

Diesen Standard gibt es jetzt seit 20 Jahren und VISUS Health IT ist in Deutschland das Unternehmen, das sich mit DICOM auskennt. 2015 haben wir per Zufall herausgefunden, dass sich die Industrie diesen Standard für die zerstörungsfreie Prüfung von Anlagen und Bauteilen einverleibt hat und ihn DICONDE oder Digital Imaging and Communication in Non Destructive Evalution nennt. Was IT-Lösungen angeht, ist die Industrie aber zehn Jahre hinter der Medizin. Für uns war das der Grund zu sagen: ‚Wir haben viel Erfahrung mit dem Standard, die der Industrie fehlt, also lass uns nochmal die Erfolgsgeschichte der VISUS Health in der Industrie vollziehen.‘“

„Man könnte sagen: Auch in der Industrie wird ‚geröntgt‘“

„Grundsätzlich sind wir für alle Branchen der Industrie offen, aber besonders interessant ist für uns die Prozessindustrie, von Öl und Gas bis zu chemischer und pharmazeutischer Industrie. Denn diese Branchen arbeiten viel mit Dampf und Druck und haben überall sicherheitstechnische Anlagen, die ständig geprüft werden müssen. Diese Prüfungen sind genauso zerstörungsfrei wie die in der Medizin – ob ich einen Menschen oder ein Anlagenteil zerstörungsfrei prüfe, ist vom Ablauf her gleich, auch wenn sich die Untersuchungstechnologien unterscheiden. Zum Beispiel werden in der chemischen Industrie die Rohrleitungen mittels Radiografie auf Erosion und Korrosion geprüft.

Unsere Kunden haben um die 30.000 Messpunkte pro Jahr, die sie mittels Durchstrahlung, sogenannter Schattenaufnahmen, prüfen. Um durch das Material zu kommen, braucht man viel Energie. Dazu kommt, dass Strom in chemischen Anlagen wegen der Explosionsgefahr verboten ist. Aus diesen Gründen verwendet die chemische Industrie Gamma- statt Röntgenstrahlen. Vom Prinzip her ist die Schattenaufnahme aber genau wie die Röntgenaufnahme in der Medizin. Man könnte sagen: Auch in der Industrie wird ‚geröntgt‘.“

Den ‚Röntgenblick‘ digitalisieren

„Jede chemische Anlage hat ein führendes System, meistens ein SAP. Darin sind alle Bauteile der Anlage und meistens auch die Prüfpläne hinterlegt. Jede Anlage hat außerdem eine Inspektionsabteilung, die die Prüfaufträge ausführt. Bisher macht sie das mittels eines Gamma-Strahlers und eines Röntgenfilms, wie man ihn vielleicht noch von früher beim Radiologen kennt. Für jede Aufnahme muss die Inspektionsabteilung also den Film entwickeln, im Leuchtkasten analysieren und den Zustand des Rohres anhand des Röntgenbildes bewerten. Danach wird ein Prüfprotokoll geschrieben – meistens auch auf Papier – und zurück an den Inspektionsleiter gegeben, der die Werte in das führende System eintippt. Es gibt bisher also keinen digitalen Ablauf in der Industrie für die Prüfung.

Genau in diesen Prozess haken wir ein: Wir haben eine Schnittstelle zum führenden (SAP-) System, holen dort digital die Aufträge ab und senden sie dann dem Durchstrahlungssystem – das ebenfalls digital ist und digitale Prüfbilder erzeugt. Das bedeutet, niemand muss die Aufträge mehr ins Gerät eintippen, denn das Gerät hat schon alle Daten und kann sie direkt mit der Strahlungsaufnahme ‚verheiraten‘.“

Daten liegen mit VISUS Industry IT digital vor und können so weiterverarbeitet werdenDaten liegen mit VISUS Industry IT digital vor und können so weiterverarbeitet werden

Den ‚Röntgenblick‘ zur Supermacht ausbauen

„Außerdem haben wir Tools, um die Aufnahmen digital auszuwerten, zum Beispiel verschiedene Bildfilter, Vergrößerungen und automatische Wanddickenmessungen – das ist besonders wichtig, da die Oberkante des Rohrs bei der Bestrahlung mit Gamma-Strahlen überstrahlt ist. Die Oberkante kann man auf der Aufnahme also gar nicht erkennen. Bisher wird die Überstrahlung auf der analogen Aufnahme mit einem Rasiermesser von Menschenhand abgekratzt. Ein Computer kann das aber viel besser und genauer, da er die Ober- und Unterkanten der Rohre mit einem Algorithmus detektieren kann.

Das heißt, wir messen die Rohrwände viel genauer, als es ein Mensch könnte. Das ist natürlich besonders wichtig, wenn es um Predictive Maintenance geht. Außerdem ist diese Technologie, also die zerstörungsfreie Prüfung, die einzige Möglichkeit, einen Blick in die Anlage zu bekommen, während sie läuft.

Präzise Messung mit VISUS Industry ITPräzise Messung mit VISUS Industry IT

Die analogen Bilder, die in der Vergangenheit von den Anlagen gemacht wurden, schaut sich nur selten jemand nochmal an. Ein Mal gemacht, ein Mal ausgewertet und dann weg damit. Wir dagegen digitalisieren die Bilder im DICONDE-Standard – der Kunde ist also nicht an uns gebunden – und ermöglichen damit, sie auch weiterhin zu nutzen. Zum Beispiel um künstliche Intelligenzen anzulernen, wofür der DICONDE-Standard super geeignet ist.

VISUS Industry IT liefert also den digitalen Blick in die Anlage und zwar überall dort, wo du es möchtest, standardisiert die Daten und kann sie darüber hinaus künstlichen Intelligenzen zur Verfügung stellen, um die Fragestellungen der chemischen Industrie in der Zukunft zu beantworten.“

Alle Vorteile des ‚Röntgenblicks‘ ausschöpfen

„Der ganze Prüfablauf ist also digital, DICONDE-konform und damit international standardisiert, revisionssicher und für die Auswertung strukturiert. Der Inspektor bekommt bessere Messwerte, da die Messungen genauer sind als im analogen Verfahren.

Wir haben dafür auch einen Proof of Content für einen digitale Assistenten, bei dem wir Schweißnähte geprüft haben, die ebenfalls ‚geröntgt‘ werden müssen. Mit unserem digitalen Schweißnahtassistent können wir den Inspektor zwar nicht ersetzen, aber wir können ihn unterstützen. Wir konnten eine Fehlererkennungsrate von 99,59996 Prozent erreichen. Ein Mensch, der diese Arbeit täglich macht und zwei bis drei Stunden hintereinander Schweißnähte beurteilt, kommt auf eine Fehlererkennungsrate von gerade mal 60 bis 70 Prozent.

Außerdem ist die Auswertung im digitalen Verfahren drei Mal schneller, da die Aufnahmen bereits den richtigen Anlageteilen zugeordnet sind und ganz einfach digital abgelegt werden können. Das bedeutet auch, dass der Prüfablauf im Ganzen weniger fehleranfällig ist. Und die Server für die digitalen Aufnahmen sind billiger als die Archivräume, die bisher für die analogen ‚Röntgenbilder‘ benötigt wurden.

Mit nur einem Knopfdruck kann man außerdem die Bilder der Prüfungen der letzten Jahre miteinander vergleichen. So kann man beobachten, wie sich das Rohr in den vergangenen Jahren entwickelt hat, ob es ausgetauscht werden muss oder nicht. Der Blick in die Anlage ist immens viel wert.“

Wie der ‚Röntgenblick‘ in die Industrie kam

„Jens Martin und ich haben VISUS Industry IT 2018 gegründet. Wir wollten das System der VISUS Health IT speziell für die Industrie weiterentwickeln. Jens Martin ist sozusagen unser CTO, Techniker und Entwickler, ich bin sozusagen der CEO und komme aus dem Vertrieb. Für ein Startup haben wir eine ungewöhnliche Ausgangslage, denn wir haben bereits ein fertiges Produkt. Da wir uns von VISUS Health IT ausgegründet haben, hatten wir bereits ein verkaufsfertiges Produkt, das wir für die Industrie angepasst und weiterentwickelt haben. Aktuell setzt zum Beispiel Applus RTD, einer der weltweit größten Dienstleiter für Prüfungen, unser Produkt in der Shell Rheinland Raffinerie, bei BP in Gelsenkirchen und Lingen ein. Aber auch RWE und Fraunhofer gehören zu unseren Kunden. Außerdem hat auch BASF schon Interesse an unserem Produkt angemeldet.

Wir haben drei Investoren, darunter den High-Tech Gründerfonds HGTF, über den wir auch 5-HT kennengelernt haben, die NRW-Bank und den Gründerfonds Ruhr. Wir suchen im Moment vor allem Kunden im Bereich der Prozessindustrie.“

Die Supermacht des ‚Röntgenblicks‘ ist konkurrenzlos

„Die Einstellung der Industrie zu zerstörungsfreien Prüfungen und vor allem zu ihrer Wertigkeit hat mich überrascht. Aber genau das ändert sich gerade. Das ist eine Situation, wie ich sie aus der Medizin im Jahre 2000 noch kenne. Damals war der Umbruch vom analogen zum digitalen Röntgen und ich habe mit VISUS Health IT dieselben Erfahrungen gemacht, wie ich sie heute mit VISUS Industry IT erlebe.

Entscheidend ist, dass man die Leute abholt. Es funktioniert gut, wenn man gemeinsam mit den Leuten für einen Tag das digitale Verfahren ausprobiert und ihnen dabei auch hilft. Deshalb bieten wir auch Trainings vor Ort und Online-Seminare an, bei denen wir die Software zeigen, Fragen beantworten und den Leuten die Möglichkeit geben, das digitale Verfahren kennenzulernen. Wer Interesse hat, dem bieten wir außerdem eine Testsituation an, in der wir für einen Monat die gesamte Software installieren, alle Geräte anbinden, Schulungen für alle Mitarbeiter anbieten und alle Komponenten integrieren – zahlen muss der Kunde aber erstmal nur unsere Dienstleistungen. Nach einem Monat kann er dann entscheiden, ob er unsere Software behalten möchte oder nicht.

In den nächsten zwei Jahren wollen wir in Deutschland Marktführer sein – oder bleiben, denn für das, was wir anbieten, gibt es aktuell keinen weiteren Anbieter. Natürlich gibt es Firmen, die eine Teillösung haben, beispielsweise die Gerätehersteller selbst. Aber sie decken nie den ganzen Prüfablauf ab und sie sind nicht – und das ist entscheidend – herstellerunabhängig, wie es der DICONDE-Standard ist, den wir verwenden.“

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