„Wir wollen Gebäude auf ganz neue Weise naturnah gestalten“
Judith Hillen
Hausfassaden, an denen Pflanzen wachsen, sind nicht nur gut für die Umwelt, sondern auch für die Menschen in der Stadt. Davon ist Dr. Tobias Graf, Gründer und CEO von Artificial Ecosystems, überzeugt. Sein Startup mit Sitz in Kaiserslautern, das Teil des Netzwerks von 5-HT ist, entwickelt innovative Lösungen für grüne Gebäudefassaden. Dabei werden Moose eingesetzt, die kaum Pflege benötigen und mithilfe eines algorithmisch gesteuerten Bewässerungskreislaufs versorgt werden. Welche Vorteile grüne Gebäudefassaden haben und was Artificial Ecosystems im Vergleich zu anderen Anbietern für Fassadenbegrünung besonders macht, erklärt Tobias Graf im Interview mit 5-HT.
Martin Hamp, Dr. Tobias Graf, Björn Stichler, Alexander Pohl (v.l.n.r.) von Artificial EcosystemsWarum hat sich Artificial Ecosystems dem Thema Fassadenbegrünung verschrieben?
Fassadenbegrünung bringt eine ganze Menge Vorteile für Gebäude und Städte mit sich, wenn es um Punkte wie Energieeffizienz und Wärmedämmung, aber auch um Sauerstoffproduktion und Feinstoffbindung geht. Zusätzlich haben grüne Fassaden einen Erholungseffekt für den Menschen und werten das Stadtbild auf. Mit Artificial Ecosystems haben wir es uns deshalb zum Ziel gesetzt, Fassadenbegrünungssysteme zu entwickeln, die sowohl ökologisch als auch ökonomisch sinnvoll sind. Damit wollen wir nicht nur Gebäudefassaden, sondern auch andere Bereiche des öffentlichen Lebens wie zum Beispiel Bushaltestellen oder Bahnhöfe durch Begrünung aufwerten.
Wie funktioniert das BryoSYSTEM, eure erste Lösung zur Fassadenbegrünung?
Das BryoSYSTEM ist eine selbstbegrünende hinterlüftete Vorhangfassade. Hinter dem Bauteil, das an Fassaden angebracht werden kann, befindet sich ein versteckter Bewässerungskreislauf, der von einem Algorithmus gesteuert wird, sodass Moose sich von ganz alleine auf der Fläche ansiedeln. Dahinter steckt eine IoT-Technologie, die mittels Sensorik den Istzustand der Wand erfasst. Dabei werden meteorologische Daten ermittelt und ausgewertet. Auf dieser Grundlage können die Pflanzen bedarfsgerecht bewässert und gedüngt werden.
Das BryoSYSTEMWas sind die größten Herausforderungen bei der Entwicklung von Systemen zur Fassadenbegrünung?
Vor allem die Technologie, die hinter unserem System steckt, ist sehr komplex. Darüber hinaus ist für die Fassadenbegrünung viel Know-how im Bauingenieurwesen nötig. Zum Beispiel muss man darauf achten, dass die Statik der Fassadenwand nicht beeinträchtigt wird, dass keine Feuchtigkeit ins Mauerwerk dringt und dass die Versorgung mit Regenwasser sichergestellt ist. Auch die Auswahl geeigneter Pflanzen ist hochkomplex. Für Pflanzen sind vertikale Flächen im Grunde lebensfeindliche Milieus, denn dabei handelt es sich um Extremstandorte mit starken Temperaturschwankungen. Deshalb muss man Pflanzen auswählen, die gut mit diesen wechselnden Bedingungen zurechtkommen.
Wie unterscheidet sich das BryoSYSTEM von anderen Lösungen zur Fassadenbegrünung?
Das BryoSYSTEM ist sehr wartungsarm, sodass immense Kosten gespart werden können. Andere Systeme zur Fassadenbegrünung verursachen Jahr für Jahr hohe laufende Kosten für Pflege, zum Beispiel für die Entfernung von Unkraut oder das Nachpflanzen. Unser großer Vorteil ist, dass wir Moose einsetzen, die andere Pflanzen daran hindern, in ihrer Nähe zu wachsen, sodass das Unkrautjäten entfällt. Außerdem brauchen Moose keinen Rückschnitt und müssen nicht gedüngt werden. Außerdem verfolgen wir einen pflanzenökologischen statt einem gartenbaulichen Ansatz. Bisherige Systeme sind häufig aus dem Gartenbau heraus entstanden: Die Pflanzen werden aufwendig in Gewächshäusern hochgezüchtet und dann in der Fassadenbegrünung eingesetzt. Im Unterschied dazu schauen wir uns an, welche Pflanzen aus ökologischer Sicht auch von selbst in der Stadt wachsen würden, sodass sie in Fassadensystemen weniger Pflege benötigen. Dadurch wollen wir die Fassadenbegrünung für die Zukunft erschwinglicher machen.
Detailansicht BryoSYSTEM mit MoosWie kam es zur Gründung von Artificial Ecosystems?
Die Idee ist ursprünglich aus meinem Biologiestudium heraus entstanden, bei dem ich im Rahmen einer Spezialisierung auf den Bereich Pflanzenökologie viel über verschiedene Moose gelernt habe. Daraufhin habe ich an der TU München im Bereich Pflanzenernährung und -bewässerung promoviert. Daraus hat sich vor gut drei Jahren die Idee für Artificial Ecosystems entwickelt. Von diesem Zeitpunkt an habe ich mich auf die Suche nach Gleichgesinnten aus anderen Fachbereichen gemacht, die mein biologisches Wissen ergänzen konnten. Das Gründerteam ist deshalb sehr interdisziplinär: Martin Hamp hat Bauingenieurwesen studiert, Björn Stichler bringt die nötige IT-Expertise für die Entwicklung unserer IoT-Systeme mit, und Alexander Pohl übernimmt den betriebswirtschaftlichen Teil. Im ersten Jahr, in dem wir mit dem EXIST-Gründerstipendium gefördert worden sind, haben wir die Zeit genutzt, um unser Geschäftsmodell zu stärken. Die Gründung der GmbH fand schließlich im Februar diesen Jahres statt.
Was sind die nächsten Ziele für Artificial Ecosystems?
Momentan arbeiten wir an zwei Projekten, die Anfang 2021 im Raum Südwesten realisiert werden sollen. Außerdem sind wir auf der Suche nach neuen Partnern für Pilotprojekte. Darüber hinaus experimentieren wir mit weiteren Pflanzen, die sich für Fassadensysteme einsetzen lassen könnten, zum Beispiel mit Kräuterstauden oder kleineren Bäumen. Wenn wir blühende Pflanzen in die Vertikale bringen, können wir gleichzeitig die entsprechenden Insekten ansiedeln und dadurch mitten in der Stadt kleine, in sich geschlossene Ökokreisläufe schaffen.
Was erwartet ihr euch davon, Teil des 5-HT Digital Hub zu sein?
Wir freuen uns, wenn das Thema Fassaden- und Stadtbegrünung im Netzwerk von 5-HT größere Aufmerksamkeit bekommt. Obwohl viele Leute sich bereits etwas darunter vorstellen können, erleben wir immer wieder, dass selbst Architekten oft nicht wissen, wie komplex das Thema ist. Da die Coronakrise uns in unserer aktuellen Finanzierungsrunde ausgebremst hat, sind wir außerdem offen für Investitionen und Beteiligungen. Darüber hinaus sind wir auf der Suche nach ambitionierten Stadtbegrünern aus den Bereichen IT, Bauingenieurwesen, Gartenbau und Biologie, um unser Team zu vergrößern. Abgesehen davon sind wir immer interessiert an Partnerschaften mit Unternehmen oder Startups, die mit uns zusammen Synergien schaffen wollen.
Wo seht ihr euch in fünf Jahren?
In fünf Jahren möchten wir drei bis fünf etablierte Systeme auf dem Markt haben, mit denen wir die Stadt- und Gebäudebegrünung voranbringen. Außerdem wollen wir bis dahin einige erfolgreiche Referenzprojekte durchgeführt haben und genug erwirtschaften, damit wir mit unserem Team und unseren Produkten ein nachhaltigeres und lebenswerteres Stadtleben mitgestalten können. Mit unseren Lösungen wollen wir Bauherren und Architekten die Möglichkeit geben, ihre Gebäude auf eine ganz neue Weise naturnah zu gestalten.
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