Wie zwei Psychologen mit virtueller Realität die e-Health-Branche verändern wollen

Judith Hillen

Startup Stories

Handlungen, die für die meisten Menschen alltäglich sind, können für andere zu einer enormen Herausforderung werden – etwa nach einem Hirntumor oder einem Schädel-Hirn-Trauma, wenn die Aufmerksamkeit, das Gedächtnis und die räumliche Orientierung gestört sein können.

Um solchen Patienten zu helfen, entwickeln die beiden jungen Psychologie-Absolventen Barbara Stegmann und Julian Specht in ihrem Startup Living Brain gerade eine neue Methode zur kognitiven Rehabilitation. Dabei sitzt der Patient nicht, wie bisher üblich, vor einem Computerprogramm oder bearbeitet Übungen mit Stift und Papier – sondern setzt sich einfach eine VR-Brille auf.

Preisverleihung des 5-HT X-linkers am 10.5.2019 in Mannheim; v.l.n.r.: Marco Majer und Dr. Frank Funke vom Digital Hub, Julian Specht und Barbara Stegmann von Living Brain, Dr. Henning Franke von Roche und Dr. Christoph Wegner von BASFDas Team hinter Living Brain

„Wir wollen Szenarien gestalten, die so alltagsnah wie möglich sind“, sagt Barbara Stegmann. Bei den konventionellen Reha-Methoden, so erklärt sie, sollen Patienten zum Beispiel in abstrakter Form Reha betreiben, beispielsweise eine Wortliste auswendig lernen. „Dadurch werden sie zwar in diesen Übungen besser, aber nicht in der Realität – das Gelernte auf das echte Leben zu übertragen ist weitaus komplexer.“

„Mit VR macht die Therapie einfach Spaß“

Um das zu ändern, nutzt Living Brain virtuelle Realität. „Dadurch können sich die Patienten in einem realitätsnahen Szenario auf den Alltag vorbereiten, ohne das unangenehme Gefühl zu haben, tatsächlich einem Risiko ausgesetzt zu sein. Sie können die Übungen so oft wiederholen, bis sie sich sicher fühlen“, sagt Stegmann. Ein weiterer Vorteil von virtueller Realität sei außerdem, dass prinzipiell endlos viele verschiedene Szenarien entworfen werden könnten. „Außerdem bekommt die Therapie durch VR einen spielerischen Charakter – es macht einfach Spaß.“

Das Heidelberger Startup hat seinen Ursprung in persönlichen Erfahrungen: Co-Founder Julian Specht wurde 2015 am Gehirn operiert. Dabei wurden Teile des Temporallappens entfernt, die für das Gedächtnis zuständig sind. Vor der OP sagten die Ärzte ihm zwar, dass es zu Einschränkungen kommen könne, doch sie konnten ihm keine Patentlösung für die anschließende Rehabilitation anbieten. „Zu dieser Zeit habe ich schon Psychologie studiert und Barbara und ich dachten uns beide: Es gibt Hunderttausende Menschen im Jahr, denen es ähnlich geht – irgendetwas muss man doch tun können.“

Bis Living Brain in seiner heutigen Form entstand, war es jedoch noch ein weiter Weg. Ursprünglich hatten die beiden Gründer nämlich keine VR-Brillen, sondern eine App geplant. „Wir hatten schon über ein Jahr an der Idee gearbeitet, als uns im September 2017 plötzlich bewusst wurde, dass sich unser Konzept letztlich nicht wesentlich von den Computerprogrammen unterschied, die es bereits gab“, erzählt Barbara Stegmann. „Das konnten wir nicht einfach ignorieren.“ Genau zum richtigen Zeitpunkt wurden sie damals auf die Methode der virtuellen Realität aufmerksam – und erkannten, dass sie ihre kognitive Therapie damit so alltagsnah gestalten konnten, wie sie es sich vorstellten. „Also haben wir unser komplettes Geschäftsmodell ad acta gelegt, uns zwölf Stunden lang mit viel Fritzkola zusammengesetzt und neue Ideen gesammelt“, erinnern sich die Gründer. Natürlich habe das Überwindung gekostet – aber im Rückblick betrachten sie diesen Tag als einen guten Tag, weil er ihnen wichtige Erkenntnisse gebracht und einen neuen Weg aufgezeigt habe.

Mittlerweile haben die beiden Gründer einen Informatiker für die technische Entwicklung eingestellt. Seit Oktober 2018 werden sie außerdem mit dem EXIST-Gründerstipendium gefördert. Ihr Büro liegt in Heidelberg im Gründer-Institut der SRH Hochschule, mit dem ihre ehemalige Hochschule studentische Startups unterstützt. „Das Umfeld in der Rhein-Neckar-Region ist ein sehr guter Nährboden zum Gründen“, findet Julian Specht. „Berlin ist natürlich ein Sammelbecken für Startups. Doch auch hier sind Weltunternehmen ansässig, wie SAP oder BASF, und insbesondere die Wissenschaft in der Region ist sehr stark. Und auch das Gründertum wird mittlerweile stark gefördert.“

In den kommenden Monaten will Living Brain erste Studien durchführen: In mehreren Universitätskliniken soll getestet werden, wie die neue Reha-Methode bei den Patienten ankommt. Doch auch danach wartet noch viel Arbeit auf Barbara Stegmann und Julian Specht. Neben dem aktuellen Training werden sie weitere virtuelle Szenarien entwickeln. Darüber hinaus stehen weitere Studien an, in denen der medizinische Nutzen der Methode bestätigt werden soll. Regularien müssen beachtet, Zertifizierungen beantragt werden. Und schließlich ist da noch die Frage, wie sich das neue Therapiemodell einen Platz im Gesundheitssystem erobern soll.

Als Startup im Bürokratie-Dschungel

Eine besondere Herausforderung stellen für die beiden die komplexen gesetzlichen Rahmenbedingungen dar – die vielfältigen Zertifizierungen und Regularien, die es im Gesundheitsbereich zu beachten gilt. „Das ist natürlich sinnvoll und wichtig, aber macht es für Startups in unserer Branche auch sehr schwierig“, findet Stegmann. Besonders wünschen sich die beiden mehr Transparenz und eine Bündelung wichtiger Informationen an einer zentralen Anlaufstelle. „Teilweise ist nicht klar, welche Behörde wofür zuständig ist, und man wird von einer Stelle zur anderen verwiesen.“

Wenn die beiden Geschäftsführer von Living Brain auf ihre bisherigen Erfahrungen zurückblicken, haben sie aber auch einige Tipps für andere Gründer parat. „Viele stellen sich vor, dass wir eine Frozen-Yogurt-Maschine und lauter bunte Sessel im Büro haben, aber man sollte realistische Erwartungen haben, bevor man ein eigenes Startup gründet – denn das ist extrem viel Arbeit“, sagt Barbara Stegmann. „Außerdem sollte man sich nicht darauf fixieren, was man studiert hat. Ich bin zum Beispiel Psychologin und schreibe jetzt Finanzpläne.“ Julian Specht ergänzt: „Wenn es in einem Startup mal zu Schwierigkeiten kommt, ist das Hindernis in der Regel nicht das Problem selbst, sondern das eigene Mindset. Man braucht Selbstbewusstsein, Optimismus und die Grundeinstellung, dass man für alles eine Lösung finden wird. Man darf sich nicht abschrecken lassen, auch nicht von Dingen, die erst mal unüberwindbar erscheinen, sondern einfach loslegen und dann mal schauen, wo die Reise hingeht.“

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