Vom Märchen in die Realität: Wie ‚Machine Learning‘ die Prozessindustrie revolutioniert

Ronja Schrimpf

Startup Stories

Bereits 2005 und damit lange vor dem Hype um ‚machine learning‘ und ‚Künstliche Intelligenzen‘ gründete Dr. Patrick Bangert algorithmica technologies: Ein Unternehmen, das sich auf Optimierungen und Instandhaltungsprognosen in der Prozessindustrie mithilfe maschinellen Lernens spezialisiert hat. Er entwickelte eine Software, die es ermöglicht, hinter die Prozesse zu blicken und die komplexen Gleichungen von physikalischen oder chemischen Verfahren aufzudecken. Im Gespräch mit 5-HT erzählt Dr. Patrick Bangert, wie sich seine Idee vom ‚machine learning‘ vor 14 Jahren zu einem erfolgreichen Unternehmen entwickeln konnte. Direkt aus dem Silicon Valley gewährt er außerdem Einblicke auf die Startup Szene in den USA.

„Über Jahrzehnte hat man die chemischen und physikalischen Prozesse mit Sensoren gemessen und diese Daten sind nun alle für uns verfügbar“

Dr. Patrick Bangert, CEO algorithmica technologies
Patrick@BeamPump

„Wir bringen machine learning aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaft hinaus direkt in die Prozessindustrie“, erklärt Patrick die Idee hinter algorithmica Technologies. „Auch die komplexesten Fabrikprozesse lassen sich durch eine Differentialgleichung beschreiben. Die ist uns zwar unbekannt, aber wir können sie messen. Anhand der gemessenen Zahlen können wir dann die Gleichung rekonstruieren. Und die lässt sich natürlich wieder direkt im Prozess überprüfen.“ Und das, so zeigt sich, sehr erfolgreich: „Bisher ist es uns bei jedem Überprüfungsfall möglich gewesen, die korrekten Zahlen zu errechnen.“

Modell für den Oberflächendruck einer Ölbohrung- Prognose (blau) im Vergleich zu den Messdaten (rot) fünf Stunden danach

40 internationale Großkonzerne und zahlreiche Tochterkonzerne mit Kraftwerken, Chemie-, Öl- und Gaswerken nutzen die von Patrick entwickelte Software bereits. Die Kunden von algorithmica technologies stammen alle aus der Prozessindustrie. Eine Industrie, die bisher kaum mit ‚machine learning‘ in Berührung gekommen ist.

„Beim ‚machine learning‘ konzentriert man sich bisher eher auf den Menschen“, erklärt Patrick, „zum Beispiel beim autonomen Fahren, aber auch bei Algorithmen zum Online-Einkauf. Der große Vorteil der Prozessindustrie ist aber, dass die Daten alle schon da sind. Im Prozessleitsystem sind lange Zeitreihen abgespeichert, zum Beispiel zur Temperatur und zu Durchflüssen. Über Jahrzehnte hat man die chemischen und physikalischen Prozesse mit Sensoren gemessen und diese Daten sind nun alle für uns verfügbar.“ Und genau diese Daten verwendet algorithmica technologies, um sie mithilfe maschinellen Lernens auszuwerten. Wofür diese Daten nützlich sind, erklärt Patrick in drei Schritten:

Hauptanwendungsfall 1: Vorausschauende Instandhaltung

Zehn Mal mehr Geld kostet es, eine Maschine zu reparieren, die bereits einen Defekt hat. Denn die defekte Maschine wirkt sich auf die anderen, intakten Maschinen im Prozess aus. Unsere Software verspricht also einen deutlichen wirtschaftlichen Vorteil: Sie gibt Prognosen heraus, wann eine Maschine kaputt gehen wird. Zwischen dem Zeitfenster, in dem die Maschine kaputt gehen wird, und der Meldung liegen eine Woche. Man hat also fünf bis sechs Tage zwischen der Nachricht und dem Ereignis und so genug Zeit, die Maschine rechtzeitig zu warten.“

Hauptanwendungsfall 2: Optimierung

Eine Anlage hat rund 20.000 Sensoren, die regelmäßig Daten messen. Ein Mensch kann diesen Daten niemals gleichzeitig Beachtung schenken oder sie alle auswerten. Daher treffen Menschen zwar gute, aber nicht die bestmögliche Entscheidung, wenn sie die Soll-Werte für die Produktion einstellen. Ihnen fehlen die nötigen Daten. Mit unserer Software können alle Daten in Echtzeit ausgewertet werden. Im Schnitt können daher fünf Prozent mehr Endprodukt hergestellt werden.“

Hauptanwendungsfall 3: Softsensoren

„In jeder Anlage müssen Werte erhoben werden, die mit sehr teuren und labilen Sensoren oder an sehr unangenehmen Stellen gemessen werden müssen. Deshalb werden diese Messungen nur stichprobenartig von Menschen gemacht – das ist ein Sicherheitsrisiko. Außerdem werden die Daten nur ein Mal am Tag gemessen und sind erst verfügbar, wenn sie in irgendeine Tabelle eingetragen wurden. Mit ‚machine learning‘ können wir die Daten errechnen, anstatt sie zu messen. Das spart Laborkosten, man hat kein Sicherheitsrisiko und die Werte liegen in Echtzeit vor.“ Darüber hinaus umginge man teure Strafen, die man bei eventuellen Ausfällen der Sensoren zahlen müsste. Die errechneten Sensordaten sind, genau wie tatsächliche Sensoren, geeicht und damit offiziell zugelassen.

„Ein Mathematiker, der sagt, wo die Grenzen liegen, ist besser als ein Verkäufer, der dem Kunden alles verspricht.“

In erster Linie ist Patrick Wissenschaftler und erst dann Unternehmer. Seine Software hat er daher selbst entwickelt – anfangs allein von zuhause aus, nur mit dem eigenen Computer und dem Wissen aus dem Physik- und Mathematikstudium bewaffnet. Heute arbeiten 20 Menschen bei algorithmica technologies. Patricks Software hat sich bewährt – wie zahlreiche Fallstudien und Referenzen belegen.

Algorithmica Team (4 Personen hinten links) und Kunde PTTGC in Rayong, Thailand.

Seine Berufung zeigt sich auch in der Art, wie er seine Software verkauft: „Viele Startups fühlen sich verpflichtet, den Himmel auf Erden zu versprechen – und das ist letztendlich ihr Fehler. Sie sagen nur: ‚Wir können das alles sofort liefern‘, ohne die Grenzen ihrer Technologie offenzulegen. Das kann nur schief gehen. algorithmica technologies gibt den Kunden immer die wissenschaftlich fundierten Daten, alle Details und wie viel Aufwand das kostet, aber auch die Limitationen. Ein Mathematiker, der sagt, wo die Grenzen liegen, ist besser als ein Verkäufer, der dem Kunden alles verspricht.“

„2005 gehörte maschinelles Lernen noch in die Kategorie Märchen“

Besonders wichtig ist dies laut Patrick in der Prozessindustrie, da die Verkaufszyklen hier sehr lang seien: Vom ersten Gespräch über das Pilotprojekt bis hin zur Kaufentscheidung dauere es auch mal zweieinhalb Jahre. Für ein junges Startup bedeutet das eine lange Durststrecke – oder womöglich sogar das Ende.

Mit so einer Durststrecke hatte auch algorithmica technologies zu kämpfen: „Der größte Fehler war, dass wir 14 Jahre zu früh angefangen haben. 2005 gehörte maschinelles Lernen noch in die Kategorie Märchen. Erst vor zwei Jahren hat sich das geändert und es hat sich ein richtiger Hype entwickelt. Das gab algorithmica technologies einen großen Boost.

Auf der anderen Seite konnten wir in der Zeit genug wissenschaftliche Studien und Referenzen sammeln. Als die Unternehmen dann nach eben solcher Software suchten, konnten wir sagen: ‚Uns gibt es schon seit zwölf Jahren. Unsere Software ist erfolgreich‚ denn die Industrie will eine Software nur dann kaufen, wenn sie bereits fertig entwickelt und mit Fallstudien und Referenzen belegt ist. Das sollten Startups immer bedenken.“

„Man geht in Deutschland davon aus, dass sich das Produkt durch Mundpropaganda schon irgendwie verbreiten wird“

Einige wichtige Tipps kann Patrick gerade deutschen Startups mit auf den Weg geben: „Als Startup aus Deutschland sollte man sich sofort international nach Märkten umschauen und Partner vor Ort suchen, die die jeweilige Sprache sprechen und die Kultur kennen. Denn Deutschland und Europa sind sehr schwierige und konservative Märkte.“

Das absolute Gegenteil zum deutschen Markt kennt Patrick auch: Er wohnt selbst im Silicon Valley und weiß darum, wie schwierig es, im Vergleich zu den USA, in Deutschland ist, sein Produkt zu verkaufen: „In Deutschland liegt das Hauptaugenmerk auf der Produktentwicklung. Aber man muss das Produkt nicht nur entwickeln, sondern nachher auch vermarkten können. Man geht in Deutschland davon aus, dass sich das Produkt durch Mundpropaganda schon irgendwie verbreiten wird. Deshalb wird nichts investiert, um den Vertrieb tatsächlich realisieren zu können.

In den USA aber sind Vertrieb und Marketing sehr wichtig, da wird in ein Unternehmen zehn Mal so viel investiert wie in ein vergleichbares Unternehmen in Deutschland und es gibt hundert Mal so viele Investoren in den USA. Das ist auch der Grund, warum es Startups in Deutschland so schwierig haben. Aber es fehlt die Wahrnehmung, dass das tatsächlich das Problem ist.“

„Wer sich also in der Prozessindustrie etabliert hat, wird da nicht so schnell wieder rausfallen“

Fehlende Investoren für Marketing und Vertrieb seien jedoch nicht der einzige Unterschied zwischen Deutschland und den USA. Auch die Art des Networking unterscheidet sich zwischen den Ländern sehr stark: „Wenn ich im Silicon Valley auf ein Event gehe, stecken mir die Leute schon proaktiv ihre Visitenkarten zu. Vielmehr noch, schon nach einem kurzen Gespräch helfen sie mir proaktiv. Dann bekomme ich innerhalb von wenigen Tagen die richtigen Kontakte und Termine, bei denen ich neue Investoren persönlich treffen kann.

In Deutschland ist man gerne bereit, lange intellektuelle Debatten über Technologien zu führen. Aber niemand ist bereit, sein eigenes Netzwerk proaktiv mit anderen zu teilen. Deshalb muss ich immer schmunzeln, wenn sich eine Stadt wie Berlin als europäisches Silicon Valley bezeichnet.“

Daher appelliert Patrick auch an größere Konzerne: „Wenn man ein Startup lange genug hinhält, dann geht es unter. Als Großunternehmen sollte man sich dem Startup annehmen, wenn tatsächlich Interesse an deren Technologie da ist. Das bedeutet, Geld zu investieren. Aber es bedeutet vor allem, die Geschwindigkeiten zu erhöhen. Die langen Verkaufszyklen kosten das Startup am meisten Geld.“

Ganz besonders gilt das für das Exportland Deutschland, in dem Unternehmen noch immer sehr vorsichtig und zurückhaltend einkaufen. Von neuen Technologien werde, so Patrick, lieber geredet, als sie tatsächlich auszuprobieren. Das macht es auch für algorithmica technologies in Deutschland schwer, obwohl das Unternehmen nur wenig Konkurrenz in diesem Bereich hat.

Vorteile bietet da aber gerade die Prozessindustrie, auf die sich algorithmica technologies spezialisiert hat: „Wenn ein Unternehmen von einer Software überzeugt ist, bleibt es auch dabei. Wer sich also in der Prozessindustrie etabliert hat, wird da nicht so schnell wieder rausfallen.“

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