Schnellere Medikamentenentwicklung durch genomische Daten
Laura Reich Diez
Die Wirkstoffentwicklung neuer Medikamente ist aufwändig, teuer und risikoreich. Rund 90 % der klinischen Studien scheitern an der richtigen Auswahl der teilnehmenden Patienten oder daran, dass sich das Medikamentenziel als nicht zentral für den Krankheitsmechanismus herausstellt, nachdem bereits Summen in Milliardenhöhe investiert wurden.
Dieses Problem geht ein deutsches Startup an. Das in Berlin ansässige Unternehmen biotx.ai hat eine selbstlernende Softwareplattform entwickelt, welche multikausale Zusammenhänge und komplexe Muster in biomedizinischen Daten erkennen kann und diese zur Entwicklung neuer Diagnosetests und Therapien verwendet.
Im Interview mit 5-HT gibt uns Joern Klinger, Gründer und CEO des Startups, Einblicke in die biotx.ai Technologie und die Vorteile dieser gegenüber traditioneller Medikamentenentwicklung. „Es ist problematisch vorauszusagen welcher Wirkstoff erfolgreich wird und welcher nicht. Es stellt sich also die Frage: Wie kann man garantieren, dass ein Wirkstoff auch erfolgreich wird?“, erläutert Joern Klinger. „Diese Frage können mit genetischen Daten zumindest zum Teil beantwortet werden.“
Joern Klinger, Gründer und CEO von biotx.aiBessere Vorhersage des Krankheitsverlaufs anhand genomischer Daten
Sequenziert man das Genom eines Menschen sieht man die genetische Signatur eines Menschen. Diese ist, wie auch der Fingerabdruck, bei jedem Menschen unterschiedlich. „Es lassen sich Muster erkennen wie beispielsweise Körpergröße oder Augenfarbe, aber es kann eben auch offenbaren für welche genetisch verursachten Krankheiten ein Mensch anfällig ist,“ erklärt Joern Klinger. „Das Schöne hierbei ist, dass man Krankheiten sehr früh erkennen kann, wenn man diesen genetischen Ansatz verfolgt. Das hat den Vorteil, dass man diese auch früh behandeln kann.
Nehmen wir zum Beispiel genetisch verursachtes hohes Cholesterin: das Risiko einen Herzinfarkt zu erleiden ist hierbei ca. 3-8-mal höher als bei einem erhöhten Cholesterinspiegel, welcher auf den Lebensstil zurückzuführen ist. Bei genetisch verursachtem hohem Cholesterin können sich bereits im Kindesalter bestimmte Ablagerungen in den Arterien bilden. Diese Ablagerungen bleiben ein Leben lang erhalten, das heißt wenn man bei Menschen mit genetisch verursachtem hohem Cholesterin im Laufe des Lebens einen erhöhten Cholesterinspiegel feststellt und sie therapiert, ist es meistens schon zu spät und das Risiko für einen Herzinfarkt ist deutlich erhöht. Erkennt man die Krankheit allerdings schon im Kindesalter, wenn die Person noch bei voller Gesundheit ist, kann man früh intervenieren. Das ist einer der großen Vorteile genomischer Daten,“ fasst Joern Klinger zusammen.
Der Patient profitiert durch eine bessere Vorhersage des Krankheitsverlaufs und eine frühzeitige Behandlung. Ein anderes Beispiel wäre Alzheimer. Erfährt der Patient frühzeitig, dass er an Alzheimer erkranken wird, kann er Vorkehrungen treffen. Zudem profitieren Pharma und Healthcare davon, dass Patienten für klinische Studien besser auswählbar sind und diese deutlich verschlankt werden.
Genomische Daten und das Wide Data Problem
„Genomische Daten sind nicht groß, sondern breit. Bei breiten Daten, bei denen der Stichprobenumfang (z. B. die Anzahl der Patienten in einer Studie) viel kleiner ist als die Anzahl der Variablen (z. B. die Anzahl der Varianten in einem Genom), tritt das statistische Problem des Mehrfachtests auf. Statistische Standardmodelle haben Schwierigkeiten, das Signal von einem zufälligen Geräusch zu unterscheiden, insbesondere wenn nicht einzelne Varianten, sondern komplexe Muster getestet werden. Zusammengefasst kann man also sagen, dass genomische Daten eine problematische Struktur aufweisen. Somit sind sie keine Big Data im traditionellen Sinne, sondern lassen sich eher Wide Data zuordnen. Das Ganze lässt sich am besten anhand des folgenden Beispiels verdeutlichen: Big Data könnten beispielsweise Twitter Daten sein. Es liegen Milliarden von Tweets vor, aber jeder Tweet hat nur eine geringe Anzahl von Zeichen und somit wenig Information.
Dementsprechend gibt es viele Beispiele und man erlernt etwas relativ simples anhand dieser Beispiele. Wide Data ist genau das Gegenteil davon: es liegen wenig Beispiele vor, aber jedes einzelne Beispiel beinhaltet enorm viel Information. Klinische Studien in der Medikamentenentwicklung umfassen zum Teil ein paar tausend Patienten. Für jeden einzelnen Patienten liegen unheimlich viele Informationen vor, bereits das menschliche Genom eines jeden Patienten enthält mehr Informationen als es Menschen auf dem Planenten Erde gibt. Und das ist genau dieses Wide Data Problem: die Algorithmen, die man bisher kannte, funktionieren gut mit Big Data, aber jetzt muss man umdenken.“
Das Portal von biotx.aiTraditionelle Medikamentenentwicklung und ihre Nachteile
In der Regel ist die Entwicklung neuer Medikamente ein aufwändiger Prozess mit sehr unsicherem Ausgang. „Traditionelle Medikamentenentwicklung hat drei große Nachteile, die auch jeder, der in diesem Bereich tätig ist, immer aufzählen wird,“ erklärt Joern Klinger. „Das eine ist der zeitliche Aspekt von der Entwicklung bis zur Zulassung. Das kann bis zu 15 Jahre in Anspruch nehmen. Zudem ist der Prozess sehr teuer, mittlerweile spricht man von ca. 4,8 Milliarden Euro pro Medikament. Das letzte ist die Unsicherheit, denn die meisten Medikamente können die klinischen Studien nicht bestehen. Besonders wichtig ist hierbei die klinische Phase 2B, in welcher die Wirksamkeit eines Medikaments zum ersten Mal an Menschen getestet wird. Selbst wenn der Wirkstoff weder toxisch ist noch keine schlimmen Nebenwirkungen hervorruft und das Wirkstoffziel adressiert, kann es sein, dass das Medikament keinen positiven Effekt beim Krankheitsverlauf des Menschen hervorbringt. In den meisten Fällen heißt das, dass Wirkstoffziel, welches adressiert wurde, hat im Endeffekt gar nicht so richtig was mit der Krankheit zu tun. Biotx.ai kann alle diese Probleme abmildern,“ erklärt Klinger. „Uns ist es möglich diesen sogenannten genetic support für ein Wirkstoffziel zu finden, also Evidenz, dass ein Wirkstoffziel tatsächlich etwas mit der Krankheit zu tun hat. Dies führt eben dazu, dass nicht die meisten Wirkstoffe in der Phase 2B scheitern, sondern dass die Erfolgschance dreimal so hoch ist.“
Parallel dazu wird durch den verschlankten Prozess sowohl der zeitliche Aufwand als auch die gesamten Kosten für die Medikamentenentwicklung gesenkt. „Der Idealfall ist aber eigentlich, dass wir Wirkstoffziele identifizieren und dass es für die dann schon einen Wirkstoff gibt, denn dann können wir genau das machen, was wir bei Covid-19 machen und gleich in die Phase 2B gehen, was den ganzen Prozess von 15 Jahren auf 6 Monate verkürzen kann."
Covid-19-Behandlung mit Hilfe revolutionärer genetischer Vorhersagemodelle
Anstelle einer langfristigen Impfstoff- oder Medikamentenentwicklung identifiziert biotx.ai genetische Signaturen, die auf die Schwere der Symptome einer bestimmten Person hinweisen, mit dem Ziel, diejenigen zu schützen, die von der Krankheit schwer betroffen sein werden, während denjenigen, die keine Symptome zeigen, die Rückkehr zu einem normalen Leben ermöglicht wird.
„Zu den technischen Details, das ist dann ziemlich medizinisch,“ lacht Joern. „Wir haben eine Technologieplattform, da untersuchen wir bestimmte genetische Signaturen des menschlichen Genoms, wenn der Mensch an einer Krankheit besonders schwer erkrankt ist. Das haben wir auch bei Covid-19 gemacht. Mithilfe von Biomarkern, wie beispielsweise der Anzahl weißer Blutkörperchen im Zusammenhang mit Covid-19, sind wir relativ schnell auf das Wirkstoffziel CDK6 (cyclin-dependent kinase 6) gekommen.
Um zu verstehen, wieso unsere Therapie so wirksam ist, muss man sich verinnerlichen, dass die Patienten, die wirklich schwer an Covid erkranken, nicht an dem Virus sterben, sondern an der Reaktion ihres Körpers auf das Virus. Das heißt es kommt zu einer Überreaktion des Immunsystems und der Körper frisst die eignen Zellen in der Lunge auf, was dazu führt, dass die Patienten nicht mehr atmen können. In der Regel werden diesen Patienten Immunsuppressiva verabreicht, diese regeln aber das gesamte Immunsystem herunter, sodass auch Immunreaktionen, die hilfreich sind, um das Virus zu bekämpfen, ausgeschaltet werden, sodass die Überlebenschancen eines Patienten lediglich bei 50% stehen.
Die Therapie, die wir gefunden haben, ist in der Lage, selektiv genau nur die Prozesse zu unterdrücken, die eben eine Immunüberantwort auf Covid sind. Das heißt das restliche Immunsystem des Patienten bleibt davon unbeeinträchtigt und der Patient wird nicht diese Überreaktion gegen Covid zeigen. Das Schöne an der ganzen Sache ist, es gibt bereits für dieses Wirkstoffziel Medikamente, diese werden für Brustkrebs eingesetzt, das heißt wenn man das für Covid einsetzten würde, könnte man sich an klinischen Studien im Bezug auf Toxizität und Nebenwirkungen bedienen. Somit wird viel Zeit gespart und der Prozess von Entwicklung bis hin zum Patienten beschleunigt.
Der Vorteil gegenüber Vaccinen ist eben, dass man selektiv die Leute adressieren kann, die wirklich schwer an der Krankheit leiden, was eben auch dann besonders wichtig ist, wenn man nicht in der Lage, ist eine langjährige Studie über den Impfstoff zu machen, sodass potentielle Nebenwirkungen noch nicht bekannt sind.“
Ein Blick in die Zukunft von biotx.ai
„Mit unseren derzeitigen Investitionen wandeln wir unser Geschäftsmodell von dienstleistungs- zu produktbasiert um. Wir werden die Erkenntnisse aus unseren Analysen in Form von Diagnostika an den Patienten bringen und damit echte Krankheitsvorhersagen ermöglichen. Eine Krankheitsvorhersage ermöglicht hohe Kosteneinsparungen im Gesundheitssystem, da auch neuartige, länger dauernde teure Arzneimittelbehandlungen aufkommen. Zum Beispiel arbeiten wir mit unseren Partnern an neuartigen Vorhersagemodellen für die Parkinson-Krankheit und Brustkrebs. Bei letzterem kann eine frühe Vorhersage Leben retten, ohne dass teure medikamentöse Behandlungen erforderlich sind. Unser Ziel ist es, mit neuartigen statistischen Werkzeugen für die Genomik zu einer besseren und schnelleren Behandlung von Patienten während dieser globalen Pandemie beizutragen," fasst Klinger seine Vision zusammen.
"Wir freuen uns, Teil des Ökosystems von 5-HT Digital Hub Chemistry and Health zu sein, denn es ist der frische Blick von außen, der es Startups ermöglicht, innovative Lösungen zu entwickeln. Und das ist genau das, was die Pharmabranche im Wandel dringend braucht."
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