Nie wieder den Impfpass suchen
Judith Hillen
In welcher Kiste oder Schublade versteckt sich bloß der Impfpass? Diese Frage dürften sich viele Menschen auf der Suche nach dem kleinen gelben Heft schon gestellt haben. Benedikt Marquardt, Thomas Steeger und Tobias Herion, die mit ihren Startups IO Propagator und DNAid Diagnostics Teil des Netzwerks von 5-HT sind, haben sich zusammengeschlossen, um mit ihrer App Vacuna den Impfpass zu digitalisieren. Seit wenigen Tagen ist die Betaversion der mobilen Anwendung verfügbar, mit der Nutzer ihre Impfdaten speichern, ihren Impfstatus einsehen und passgenaue Impfempfehlungen erhalten können. In diesem Interview sprechen Benedikt Marquardt, Thomas Steeger und Tobias Herion darüber, welche Vorteile die Digitalisierung des Impfpasses mit sich bringt, wie sich ihre App mit der elektronischen Patientenakte verbinden lässt und was Vacuna von anderen Apps zur Impfpassdigitalisierung unterscheidet.
Benedikt Marquardt, Thomas Steeger und Tobias Herion
Warum braucht es einen digitalen Impfpass?
Tobias Herion: Ein großer Vorteil ist, dass man einen digitalen Impfpass nicht mehr verlieren kann. Wenn wir Freunde und Bekannte danach fragen, wo ihr Impfpass ist, bekommen wir oft als Antwort: „Keine Ahnung, der ist wahrscheinlich beim letzten Umzug verloren gegangen.“ Mit unserer App werden die Daten aus dem Impfpass allerdings nicht einfach nur gespeichert, denn dafür würde auch ein einfaches Foto ausreichen. Wir wollen dafür sorgen, dass die Nutzer einen tatsächlichen Mehrwert aus ihren Impfdaten ziehen können.
Benedikt Marquardt: Wenn die Impfdaten digitalisiert sind, können wir darauf basierend Impfempfehlungen geben, zum Beispiel für die Standardimpfungen des Robert-Koch-Instituts. Mit dem digitalen Impfpass wollen wir die Menschen außerdem dazu anregen, sich überhaupt mit ihrem Impfstatus zu beschäftigen. Der Anreiz, zum Arzt zu gehen und sich impfen zu lassen, ist häufig nicht besonders groß. Wenn man aber einen digitalen Impfpass hat und dadurch auch über seinen Impfstatus Bescheid weiß, denkt man eher daran, eine empfohlene Impfung durchzuführen oder aufzufrischen.
Seit wenigen Tagen ist eure App Vacuna in einer Betaversion für iOS und Android verfügbar. Welche Funktionen bietet die Anwendung?
Benedikt Marquardt: Zu Beginn macht der Nutzer Fotos von seinem Impfpass, die in der App gespeichert werden, sodass die Informationen nicht mehr verloren gehen können. Gleichzeitig werden die Impfdaten digitalisiert und der Nutzer erhält in der kostenlosen Basis-Version eine Liste seiner Impfungen mit Datum und Impfstoff. In einem mehrmonatigen Proof of Concept haben wir bereits die automatisierte Digitalisierung via Computer Vision und Machine Learning validiert, die in der Betaversion aber noch nicht zum Einsatz kommt. In einer kostenpflichtigen Version kommen noch Informationen zum Arzt und zur Chargennummer hinzu, sodass der Nutzer benachrichtigt werden kann, wenn es einen Rückruf eines Impfstoffs gab. Eine Kostenerstattung durch die Krankenkassen wird durch die Qualifizierung als Digitale Gesundheitsanwendung möglich, was wir mittelfristig nach einer Zulassung als Medizinprodukt anstreben. Aus der Übersicht über die Impfungen wird schließlich der Impfstatus bestimmt, basierend auf den Impfempfehlungen des Robert-Koch-Instituts. Außerdem planen wir, auf Wunsch den Kontakt zu einem Arzt zu vermitteln, der über Telemedizin personalisierte Impfempfehlungen gibt. Darüber hinaus soll die App bald dazu in der Lage sein, Push-Benachrichtigungen zu senden, wenn eine Impfung aufzufrischen ist oder für den Nutzer zum Beispiel aufgrund seines Alters empfohlen wird.
Vacuna App und Logo
Wie unterscheidet ihr euch von anderen Apps zur Impfpass-Digitalisierung?
Benedikt Marquardt: Ein Punkt, der uns sehr wichtig ist, ist die User Experience. Bei den bisherigen Apps muss der Nutzer jede Impfung selbst von Hand eintragen. Dieser hohe Aufwand ist aus unserer Sicht ein Hauptgrund dafür, warum die existierenden Apps bislang wenig verbreitet sind. Indem wir Computer Vision einsetzen, machen wir die Nutzung deutlich komfortabler: Man öffnet die App, macht Fotos von seinem Impfausweis und kann direkt seinen Impfstatus einsehen.
Tobias Herion: Darüber hinaus bieten wir mit Vacuna eine individualisierte Lösung an. Viele Apps stellen eher allgemeine Informationen zur Verfügung, sodass der Nutzer teilweise nicht weiß, welche Empfehlung für ihn persönlich gilt. Außerdem geben wir einen Überblick über den gesamten Impfstatus und unterstützen dadurch bei einer umfassenden Digitalisierung des Impfpasses.
Wie wird dabei der Schutz persönlicher Daten sichergestellt?
Benedikt Marquardt: Gerade bei Gesundheitsanwendungen sind die Anforderungen an den Datenschutz besonders hoch. Deshalb hatten wir am Anfang großen Respekt davor und haben uns gefragt, ob wir das als Startup eigentlich schaffen können. Aber wenn man sich genauer mit den datenschutzrechtlichen Anforderungen wie der DSGVO oder der MDR beschäftigt, ist alles machbar. So haben wir – neben der obligatorischen Datenschutzerklärung – ein Datenschutzkonzept für die App ausgearbeitet, in dem wir unter anderem eine Risikoanalyse und -bewertung der Datenverarbeitung durchführen. Hilfreich sind hier auch unsere Erfahrungen mit IO Propagator, da wir als Dienstleister bereits ein großes Krankenhaus im Gesundheits- und Patientendatenschutz beraten haben. Generell erheben wir so wenig Daten wie möglich und nichts geschieht ohne explizite Einwilligung des Users. Zusätzlich läuft alles über Server, die in Deutschland gehostet sind.
Wie kam die Idee für eure App zur Impfpass-Digitalisierung zustande?
Benedikt Marquardt: Thomas und ich arbeiten schon seit einem Jahr in unserem Startup IO Propagator an der Entwicklung von SaaS-Lösungen. Weil wir uns auf den Bereich Digital Health fokussieren wollten, hat uns ein Startup-Mentor im März mit Tobias zusammengebracht, der bereits ein Startup im Gesundheitsbereich gegründet hat. Zu dritt decken wir jetzt sowohl die technische als auch die fachliche Seite ab.
Tobias Herion: Die Idee, den Impfpass zu digitalisieren und damit einen Service für gesundheitsbewusste Kunden anzubieten, hatte ich schon seit zwei oder drei Jahren im Kopf. Da Benedikt und Thomas nach Anwendungsfällen für ihre Computer-Vision-Technologie gesucht haben, hat sich der digitale Impfpass als gemeinsame Geschäftsidee angeboten.
Wie geht es ab jetzt mit der Entwicklung von Vacuna weiter?
Benedikt Marquardt: Die letzten zwei Monate haben wir Tag und Nacht unser MVP gebaut. Mit der Betaphase wollen wir nun so schnell wie möglich Feedback von unseren Nutzern bekommen.
Tobias Herion: Wir wollen herausfinden, wer unsere Nutzer sind und für welche Funktionalitäten sie sich interessieren. Die Hauptzielgruppe sind vermutlich junge Erwachsene in ihren Zwanzigern oder Dreißigern, die technikaffin sind, beruflich oder privat viel reisen und möglicherweise schon Kinder haben, sodass sie an einem geeigneten Impfschutz interessiert sind. Aber auch für Menschen über 60 Jahren, die besonderen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt sind, kann ein digitaler Impfpass mit entsprechenden Impfempfehlungen relevant sein.
Wie finanziert ihr euch aktuell?
Thomas Steeger: Aktuell werden wir mit dem Gründerstipendium NRW gefördert. Demnächst werden wir entscheiden, ob wir danach weiter gebootstrapped bleiben oder auf Investoren setzen.
Tobias Herion: Kurzfristig wollen wir herausfinden, ob es für unsere Nutzer sinnvoll wäre, Vacuna als Medizinprodukt qualifizieren zu lassen. Wenn das der Fall wäre, hätten wir zusätzlichen Kapitalbedarf für die Medizinproduktzulassung.
Ab 2021 wird deutschlandweit die elektronische Patientenakte (ePA) eingeführt. Welche Rolle spielt Vacuna dabei?
Thomas Steeger: Der Impfpass ist das erste Medizinische Informationsobjekt (MIO), das innerhalb der elektronischen Patientenakte realisiert werden soll – insofern ist unser Thema sehr aktuell.
Tobias Herion: Wir wollen aber keine Konkurrenz zur ePA sein, sondern sehen uns als komplementär zu diesem System. Die ePA bietet ja nur den Datenstandard und die Datenbank für den e-Impfpass, kümmert sich aber nicht um die Digitalisierung von Altdaten. Dies wird vermutlich Aufgabe der Ärzte werden und ist als manueller Prozess sehr zeitaufwendig und damit teuer. Unsere App bietet hier die Möglichkeit, dass jeder zu Hause den eigenen Impfausweis digitalisieren kann und dass ihm die Vorteile der ePA sofort zur Verfügung stehen. Daher wollen wir jetzt vor allem zeigen, welche Anwendungen mit Datensätzen wie unseren möglich sind, und Interesse bei den Nutzern wecken. Wenn die Krankenkassen später entsprechende Schnittstellen freimachen und wenn die Nutzer ihr Einverständnis geben, sind wir in der Lage, an die Systeme anzukoppeln und unsere Daten direkt in der ePA zur Verfügung zu stellen.
Wie seid ihr mit 5-HT in Kontakt gekommen?
Tobias Herion: Ich habe mit DNAid Diagnostics bereits ein anderes Startup in der Rhein-Neckar-Region gegründet und bin durch die Teilnahme am Life Science Accelerator in Heidelberg zum ersten Mal mit 5-HT in Kontakt gekommen. Aufgrund des Schwerpunkts Digital Health sehen wir 5-HT als optimalen Partner für unser Ziel, die Impfpass-Digitalisierung voranzutreiben.
Auf welche Weise kann 5-HT euch in eurer weiteren Entwicklung unterstützen?
Tobias Herion: Wir hoffen, durch 5-HT eine größere Bekanntheit zu erlangen, sodass potenzielle Kunden auf uns aufmerksam werden. In einem nächsten Schritt wäre es hilfreich, über 5-HT in Kontakt mit Krankenkassen oder auch Industriepartnern zu kommen, um mögliche Anwendungen für unsere Lösung zu besprechen. Wir freuen uns sehr, dass wir zusammen mit regionalen Gründernetzwerken wie 5-HT das Thema Digital Health in Deutschland voranbringen können.
Thomas Steeger: Gerade im Gesundheitswesen hat Deutschland noch viel aufzuholen, was die Digitalisierung angeht. Mit dem digitalen Impfpass wollen wir einen ersten Schritt in diese Richtung machen.
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