„Die digitale Transformation kann auch klein anfangen“

Judith Hillen

Startup Stories

Mit innovativen Technologien die Entwicklung neuer Materialien radikal beschleunigen – das ist das Ziel des US-amerikanischen Startups Kebotix. Das Spin-off der Harvard University ist seit Kurzem Teil des Netzwerks von 5-HT. Im Interview erklärt Chief Product Officer und Mitgründer Dr. Christoph Kreisbeck, wie Kebotix Chemie- und Pharmaunternehmen dabei helfen will, bei der Entwicklung neuer Materialien Zeit und Kosten zu sparen und gleichzeitig einen Schritt in Richtung digitaler Transformation zu machen.

Kebotix Christoph Kreisbeck

An welchen Problemen in der Materialentwicklung setzt Kebotix an?

Viele gesellschaftliche und technologische Herausforderungen in der heutigen Welt lassen sich durch neue Materialien lösen, zum Beispiel durch die Entwicklung von Materialien für die Speicherung von Energie, durch umweltverträgliche Kunststoffe oder neuartige Medikamente. Lösungen wie diese brauchen wir nicht erst morgen, sondern schon heute. Aber bisher dauert es zehn bis fünfzehn Jahre, ein neues Material zu entwickeln. Dieses Problem betrifft verschiedene Industrien, auch die Pharma- und Chemieindustrie. Seit mehreren Jahren geht die Innovationsproduktivität zurück: Wir geben zwar immer mehr Geld für Forschungseinrichtungen aus, aber der Output wird kleiner, weil die Fragestellungen komplexer werden und die Entwicklung neuer Materialien deshalb immer länger dauert. Wir wollen es möglich machen, Materialprodukte zehnmal schneller als bisher auf den Markt zu bringen. Unser Motto lautet: „Materials for tomorrow, today!“

Wie beschleunigt Kebotix den Prozess der Materialentwicklung?

Wir verfolgen das Konzept des Inverse Design. Wenn wir eine neue Chemikalie entwickeln wollen, beginnen wir nicht mit der Struktur, sondern mit der Funktion, die daraufhin in eine entsprechende Struktur übersetzt wird. Zurzeit ist es in der Regel so, dass der Experte im Unternehmen basierend auf seiner Erfahrung eine Idee hat, welches Material die gewünschten Eigenschaften haben könnte. Wir gehen rückwärts – von den gewünschten Eigenschaften zum Material. Dabei nutzen wir neue Technologien für die Erzeugung von Strukturen. Ein wichtiger Ansatzpunkt, um den Prozess zu beschleunigen, ist eine Art Filtersystem: Entlang der Pipeline, die die Materialien durchlaufen müssen, sortieren wir von Stufe zu Stufe immer mehr Kandidaten aus, sodass am Ende nur diejenigen übrig bleiben, die eine relativ hohe Wahrscheinlichkeit haben, alle Kriterien zu erfüllen. Es müssen also nur einige wenige erfolgversprechende Materialien getestet werden, sodass die Kosten sinken und die Erfolgsquote steigt.

Kebotix_Self_Driving_Lab

Welche Technologien stecken hinter diesem Ansatz?

Die Besonderheit von Kebotix liegt darin, dass wir verschiedene Technologien in einer integrierten Plattform zusammenbringen. Zum einen nutzen wir Big-Data-Frameworks, wie sie auch Facebook oder Google zur Bild- und Textgenerierung verwenden. Bei Google Translate gibt man zum Beispiel einen deutschsprachigen Text ein, der daraufhin in Englisch übersetzt wird. Die Grundlage dafür ist, dass der Algorithmus mit großen Mengen an Daten trainiert wurde, um zu verstehen, wie die beiden Sprachen aufgebaut sind und wie sich die eine in die andere übersetzen lässt. Diese Funktionsweise übertragen wir auf die Übersetzung von chemischen Eigenschaften in chemische Strukturen: Auf der einen Seite geben wir die Eigenschaften ein, die das gesuchte Material haben soll, und auf der anderen Seite kommt ein Text heraus, der nach einer festgelegten Syntax die entsprechende Molekülstruktur beschreibt. Dafür muss der Algorithmus mit entsprechenden Beispieldaten trainiert werden, um zu verstehen, wie sich chemische Eigenschaften in chemische Strukturen übersetzen lassen. Um die notwendige Datenmenge zu erzeugen, wenden wir verschiedenste Tricks an. Beispielsweise integrieren wir computergestützte Simulation und Machine Learning, um aus kleinen experimentellen Datensätzen genügend Trainingsbeispiele für unsere Algorithmen zu erzeugen. Wir generieren also aus Small Data Big Data. Außerdem integrieren wir auch Erkenntnisse aus automatisierbaren Experimenten im Labor. Ähnlich wie wir Menschen lernt unsere Künstliche Intelligenz aus Fehlern und Erfolgen stetig hinzu. Wir glauben daran, dass sich die Materialentwicklung nur dann beschleunigen lässt, wenn man alle diese Bausteine in eine Plattform integriert.

Wie können insbesondere Pharma- und Chemieunternehmen von euren Angeboten profitieren?

In der Pharmaindustrie können wir beispielsweise dabei helfen, in frühen Stadien der Medikamentenentwicklung geeignete Moleküle zu finden, die dazu in der Lage sind, an bestimmte Proteine zu binden. In der Agrochemie gibt es zum Beispiel bei der Entwicklung von Fungiziden, Herbiziden und Pestiziden großen Innovationsbedarf. Hier können wir dazu beitragen, neue Mittel zu finden, die möglichst wenig toxisch sind und gegen die noch keine Resistenzen bestehen. Außerdem haben wir einen Fokus auf Optoelektronik, Verbundwerkstoffen, Kunststoffen und Schmierstoffen. Künstliche Intelligenz kann in all diesen Fällen helfen, schneller die gewünschten Ergebnisse zu erzielen. In einem unserer internen Materialentwicklungsprogramme beschäftigen wir uns mit geeigneten Beschichtungen für sogenannte Smart Windows, die zur Energieeffizienz im Gebäudesektor beitragen. Eine spannende Technologie, die aber derzeit noch nicht ausgereift genug ist, um auf den Markt bestehen zu können – also ein ideales Problem, um zu demonstrieren, was unsere Technologie imstande ist zu leisten.

Wie kam es zur Gründung von Kebotix?

Kebotix ist ein Spin-off einer Forschungsgruppe der Harvard University, die sich damit beschäftigt, wie sich die Entwicklung von Materialien mithilfe digitaler Innovationen beschleunigen lässt. In der Forschungsgruppe von Prof. Alan Aspuru-Guzik habe ich mit meinen Mitgründern Semion Saikin und Dennis Sheberla zunächst mit computergestützten Simulationen gearbeitet. Bald darauf haben wir außerdem Machine-Learning-Ansätze integriert. Weil der Algorithmus nun die Korrelationen zwischen Struktur und Eigenschaften erlernen konnte, mussten wir nicht mehr alles berechnen, sondern konnten mit weniger Aufwand bessere Vorhersagen treffen. Als wir entdeckten, dass wir auch Technologien der Bild- und Textgenerierung nutzen konnten, um damit Moleküle zu generieren, waren wir bereit für die Kommerzialisierung. Deshalb entschieden wir uns, zusammen mit Jill Becker, die zuvor bereits eine erste eigene Firma aufgebaut hatte, Kebotix zu gründen. Bereits sehr früh fingen wir an zu skalieren, und vor Kurzem haben wir unsere Series-A-Runde mit 11,4 Millionen Dollar abgeschlossen. Mittlerweile hat Kebotix 17 Mitarbeiter, von Data Scientists und Machine-Learning-Experten über organische Chemiker bis hin zu Materialwissenschaftlern.

Kebotix Team

Was sind die nächsten Pläne für die Weiterentwicklung von Kebotix?

Wir wachsen zurzeit in die Breite und adressieren verschiedene Industriesegmente, um zu sehen, in welchen Bereichen wir bei der digitalen Transformation helfen können. In nächster Zeit wollen wir vor allem weitere Kunden gewinnen, die wir auf diesem Weg begleiten können. Dabei ist uns wichtig, unseren Klienten zu kommunizieren, dass wir klein anfangen können: Unternehmen denken häufig, sie müssten erst einmal all ihre Daten sauber aufbereiten, bevor sie mit einem Machine-Learning-Projekt starten könnten, aber das stimmt nicht. Wir müssen nicht mit einer großen Revolution anfangen – die digitale Transformation kann auch eine schrittweise Evolution sein. Unsere Kunden müssen nicht sofort alles neu machen, aber wenn unsere Tools ihnen dabei helfen, in bestimmten Bereichen die Produktivität zu erhöhen, ist das bereits ein erheblicher Gewinn.

Wie stark ist euer Fokus auf Deutschland bei der Suche nach neuen Kunden?

Viele unserer bisherigen Kunden kommen aus den USA, Japan oder Deutschland, wo etliche Unternehmen schon recht aufgeschlossen gegenüber Künstlicher Intelligenz sind. Auch für die Zukunft ist Deutschland ein besonders wichtiger Markt für uns. Vor allem die deutsche Chemieindustrie ist sehr stark und weltweit bekannt für ihre Innovationskraft. Aktuell sprechen wir bereits mit mehreren großen Chemieunternehmen in Deutschland über potenzielle Projekte. Durch die Zusammenarbeit mit 5-HT hoffen wir deshalb, das Bewusstsein für das Potenzial von Materialinformatik und Künstlicher Intelligenz für Materialwissenschaften auf dem deutschen Markt zu schärfen und bessere Einblicke zu erlangen, wie wir die Unternehmen vor Ort in ihrer digitalen Transformation bestmöglich unterstützen können. Die Rhein-Neckar-Region mit Ludwigshafen als Hotspot der Chemiebranche ist für uns eine sehr wichtige Region. Hier sehen wir viele Möglichkeiten, Synergien zu nutzen und einen Mehrwert für das Ökosystem zu schaffen.

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