„Die Chemieindustrie muss ihre Position im digitalen Ökosystem finden“

Corinna Herrmann

Statistics & Science

An dem Schlagwort Digitalisierung kommt man heute auch in der Chemiebranche nicht mehr vorbei. Immer neue Technologien machen Schlagzeilen – da kann es schwer sein, den Überblick zu behalten. Doch wie ist der Stand der Dinge? Wie weit ist die Digitalisierung in der Chemieindustrie fortgeschritten, und worin liegen besondere Potenziale und Herausforderungen?Digitalisierungsstudie Chemie und PharmaAuf diese Fragen gibt eine Studie im Auftrag des Verbandes der Chemischen Industrie e.V. erste Antworten: Die Innovationsindikatoren Chemie, die gemeinsam vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung und vom Center für wirtschaftspolitische Studien erhoben werden, beschäftigen sich in der aktuellen Ausgabe von 2018 mit dem Schwerpunktthema Digitalisierung.Digitale Anwendungen sind in der Chemie- und Pharmaindustrie schon weit verbreitet, stellen die Autoren der Studie fest: 80 % der befragten Unternehmen nutzen digitale Lösungen bereits für den Kontakt mit Kunden, ebenso für die Vernetzung innerhalb der Produktion oder zwischen Produktion und Logistik. Allerdings kommt der Digitalisierung im Produktionsbereich nur selten eine hohe Bedeutung zu. „Dies liegt wohl daran, dass die Chemieindustrie beim Thema Prozessoptimierung schon sehr gut aufgestellt ist“, urteilen Dr. Birgit Gehrke und Dr. Christian Rammer, die Autoren der Studie. Besonders für die Kommunikation mit Kunden und Lieferanten planen viele Betriebe jedoch, die Nutzung digitaler Anwendungen in Zukunft zu verstärken. Dabei wollen vor allem kleine und mittlere Unternehmen aufholen, heißt es in der Studie. Mit diesen Daten liegt die Chemiebranche insgesamt leicht über dem Durchschnitt des verarbeitenden Gewerbes in Deutschland.Wie die Innovationserhebung zeigt, haben digitale Entwicklungen für die deutsche Chemie- und Pharmaindustrie auch eine große wirtschaftliche Relevanz: Der Beitrag, den die Digitalisierung in den letzten Jahren zum Wachstum der Wertschöpfung innerhalb der Branche geleistet hat, ist in Deutschland höher als etwa in den USA oder in Japan. Unter den großen Chemienationen weist nur Frankreich einen höheren Wert auf.Digitalisierungspotenziale in Forschung Potenziale für die Digitalisierung sehen Gehrke und Rammer in vielen Bereichen – etwa in der Forschung, die durch Simulationsansätze enorm beschleunigt werden könne. Als Beispiel nennt die Studie den Supercomputer Quriosity, mit dem die Ludwigshafener BASF molekulare Simulationen von Waschmittel-Formulierungen durchführt, um so die chemischen Prozesse besser zu verstehen. Darüber hinaus weisen die Autoren darauf hin, dass die Analyse von Massendaten mit Big Data und künstlicher Intelligenz neue Einsichten ermöglichen und Innovationen generieren kann.Mehr Produktivität durch Supply-Chain-Optimierung und digitales Anlagenmanagement Auch wenn Chemieunternehmen der Digitalisierung in der Produktion bislang nur eine geringe Bedeutung beimessen, sehen Gehrke und Rammer darin große Chancen. „Digitalisierte Technologien versprechen wesentliche Produktivitätsgewinne in einer Branche, die auf Basis der etablierten Fertigungstechnik bei bereits hoch-optimierten Anlagen kaum noch weitere Effizienzsteigerungen erzielen kann“, schreiben die Ökonomen. Besonderes Potenzial liegt demnach in der digitalen Supply-Chain-Optimierung, im digitalen Anlagenmanagement und im ferngesteuerten Betreiben von Anlagen. Damit ließe sich unter anderem die Auslastung verbessern und die Flexibilität erhöhen. Additive Fertigungstechnologien wie 3D-Druck könnten außerdem neue Absatzmärkte und Geschäftsmodelle eröffnen.„Startups spielen eine zunehmend wichtige Rolle“In digitalen Geschäftsmodellen und Plattformen liegen der Studie zufolge besonders viele neue Möglichkeiten. Chemieunternehmen müssen „weg von den gewohnten, produktzentrierten Ansätzen, hin zu vollständiger Kundenzentrierung“, meinen Gehrke und Rammer. Vor allem im B2C-Geschäft – im direkten Kontakt mit den Endkunden – gebe es große Potenziale: Hier ließen sich zum Beispiel im Kosmetikbereich durch die Integration von Nutzerdaten kundenspezifische Lösungen realisieren. Generell seien individualisierte Zusatzdienstleistungen eine gute Möglichkeit, um zusätzliche Umsatzquellen zu erschließen. „Dabei können neue Netzwerke zwischen Unternehmen aus der Chemieindustrie und anderen Branchen entstehen, insbesondere aus der digitalen Wirtschaft“, so Gehrke und Rammer. „Am Ende kommt es zur Herausbildung branchenübergreifender Ökosysteme, die traditionelle Branchengrenzen verwischen. Die Chemieindustrie muss dabei ihre Position in diesen neuen Ökosystemen finden.“Um den Kundenkontakt zu intensivieren, bieten sich der Studie zufolge außerdem intuitive, nutzerfreundliche digitale Plattformen an. Mithilfe von Plattformen, die sich an den Endkunden richten, können auch neue Kundengruppen erschlossen werden. „Dabei spielen Startups als Plattform-Moderatoren eine zunehmend wichtige Rolle“, betonen die Autoren der Studie. „Von Deutschland aus treten insbesondere junge Unternehmen als Anbieter neuer Vertriebsmöglichkeiten auf.“Digitalisierungsstrategien und Innovationsprozesse ausbauenDie Chemiebranche steht jedoch auch vor Herausforderungen, wenn sie die Potenziale der Digitalisierung für sich nutzen will. So muss nicht nur der Datenschutz gewährleistet sein, auch Investitionen in die IT-Infrastruktur sind notwendig – was insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen schwierig sein kann. Aktuell sorgen die gleichzeitige Nutzung verschiedener digitaler Anwendungen, hohe Kosten bei der Pflege alter Modelle, ein großer Bestand an nur unzureichend digitalisierten Altanlagen und Unsicherheiten bezüglich künftiger technischer Standards häufig für Probleme, so die Autoren der Studie. Einigen Betrieben fehle außerdem noch eine Digitalisierungsstrategie. Zudem sei eine Öffnung von Innovationsprozessen nötig, damit neue Organisations- und Kooperationsformen entstehen können, etwa zwischen Wirtschaft und Wissenschaft.Fachkräftemangel problematischAls besondere Herausforderung identifizieren die Autoren der Studie den Mangel an IT-Fachkräften und fehlende IT-Kenntnisse der Mitarbeiter. Daher bestehe Qualifizierungsbedarf an Schulen, Berufsschulen und Hochschulen. Doch die Studie betont auch: Unternehmen werden sich auf kontinuierliche und bedarfsorientierte Weiterbildungen einstellen müssen, um ihre Mitarbeiter fit für die Digitalisierung zu machen.

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