Innovative Blicksteuerung entwickelt für Menschen mit Handicap

Jessica Langenstein

Startup Stories

In unserer vielfach vernetzten Welt und der voranschreitenden Digitalisierung sind Smartphones, Computer und Tablets kaum noch aus dem alltäglichen Leben wegzudenken. Die Handhabung von Touchscreens, Tasten und Tastaturen gehört für viele Menschen deshalb zu den selbstverständlichen Handgriffen, die tagtäglich wie nebenbei ausgeführt werden.

Wer genau hinschaut, erkennt allerdings, dass diese Bedienoberflächen nicht ohne ihre Hürden sind. Zum Wischen, Tippen oder Anschlagen von Tasten wird eine gewisse Bewegungsfähigkeit vorausgesetzt, über die längst nicht alle Menschen verfügen.

Gerade durch die Verwendung von Tablets und Computern im beruflichen sowie privaten Alltag werden Menschen mit motorischem Handicap so in ihrer Autonomie eingeschränkt, da sie selbst bei der Bedienung ihrer eigenen Geräte teilweise auf fremde Hilfe angewiesen sind. 

Startup mit besonderem Problembewusstsein

Mit diesem Problem ist Anton Wachner selbst konfrontiert. 2017 gründet er gemeinsam mit Kiril Kotev das Startup Treye Tech, das es sich zum Ziel gesetzt hat, Blicksteuerungssoftware (unter Verwendung von Eye-Tracking Methoden) für Menschen mit eingeschränkter Mobilität zu entwickeln.

Als Eye-Tracking wird eine Technologie bezeichnet, mit welcher die Augenbewegungen von Menschen erfasst und interpretiert werden kann. Dazu wird meistens spezielle Hardware eingesetzt. Im Gegensatz dazu hat Treye Tech ein System konzipiert, das ermöglichen, soll mobile Endgeräte oder auch stationäre Computersysteme nur mittels einfacher Kameras durch Blicksteuerung zu bedienen.

Wie das funktioniert und was Treye Tech besonders macht, erläutert Kiril Kotev im Interview.

Anton Wachner und Kiril Kotev

Wieso Treye Tech?

Kiril: Unser Mitgründer Anton Wachner hat selbst festgestellt, dass für viele Menschen mit Handicap keine geeigneten Lösungen vorhanden sind, die sie bei der Bedienung von mobilen Geräten unterstützen können.

Um auf einer Karte auf dem Handydisplay zu zoomen, muss das Display zum Beispiel bereits mit zwei Fingern berührt werden. Das können nicht alle. Für diese Menschen bedeutet das oft, dass sie einen Teil ihrer Selbstständigkeit aufgeben und sich auf die Hilfe von anderen verlassen müssen.

Der Name Treye Tech soll verschiedene Aspekte deutlich machen. Wir sehen unser Vorhaben noch als einen mutigen Versuch, eine Herausforderung anzunehmen und etwas Wertvolles zu erschaffen. Durch die Kombination von “Try” aus dem Englischen und “Eye” entstand dann “Treye”. Da der technische Aspekt uns sehr wichtig ist und das auch die Richtung ist, in die wir uns entwickeln wollen, entstand dann der Name “Treye Tech”.

Wie funktioniert eure Blicksteuerung und was macht sie besonders?

Kiril: Im Gegensatz zu den meisten Eye-Tracking-Systemen verwenden wir die schon eingebaute Hardware des Geräts, zum Beispiel die Frontkamera des Smartphones. Da nicht erst extra teure Kameras oder Sensoren gekauft werden müssen, ist unser System um einiges günstiger und auch leichter zu bedienen.

Der Vorteil unseres Systems ist auch, dass unser Interface besonders auf den Komfort und auf die Bedürfnisse von Menschen mit Handicap ausgelegt ist.

Wir machen zum Beispiel kein punktgenaues Eye-Tracking, bei dem jede Bewegung erfasst wird. Stattdessen funktioniert die Navigation bei uns über Bewegungen in vier Richtungen (also oben, unten, rechts und links). Man kann sich das ein bisschen wie ein Schachbrett vorstellen. Wenn der Nutzer eindeutig eine Augenbewegung nach rechts oder links macht, rückt der Cursor auch ein Feld nach rechts oder links. Das erleichtert die Bedienung um einiges.

Blicksteuerung mit dem Treye Tech System

Beim normalen Eye-Tracking passiert es nämlich oft, dass unbewusste Augenbewegungen, wie sie zum Beispiel beim Anschauen einer Webseite entstehen, miterfasst werden. Um das zu vermeiden, haben wir einen Filter eingebaut, der solche Bewegungen herausfiltert. Dieser funktioniert so, dass in der Mitte unseres Layouts keine Bewegungen erfasst werden.

Unser System ermöglicht es aber auch, die Steuerung komplett zu personalisieren und an die individuellen Bedürfnisse anzupassen. So ist es zum Beispiel auch möglich, einen Timer einzustellen, der nach einer bestimmten Zeit, die auf eine Stelle geschaut wird, eine Aktion ausführt. Oder man stellt ein, dass Blinzeln eine bestimmte Handlung auslöst, wenn das als bequemer empfunden wird.

Heute werden ja Sprachsteuerungs- und Spracherkennungssysteme immer häufiger verbaut und verwendet. Seht ihr das als Konkurrenz an?

Kiril: Für viele Situationen ist Sprachsteuerung bestimmt gut geeignet. Aber längst nicht für alle. Will ich z.B. mein Passwort für ein Netzwerk in der Bahn eingeben, kann ich das nicht mit der Sprachsteuerung machen, außer ich will, dass alle in der Bahn mein Passwort mithören können. Für die Privatsphäre und den Datenschutz ist das also sehr wichtig.

Man kann sich unsere Blicksteuerung wie eine Gestensteuerung vorstellen, die mit den Augen ausgeführt wird.

Ihr entwickelt Technologien für Menschen mit Handicap. Liegt euer Schwerpunkt also auf dem sozialen Aspekt oder seht ihr euch überwiegend als technisches Unternehmen?

Kiril: Langfristig wollen wir uns als Technologieunternehmen entwickeln.
Was wir anbieten, ist ja in erster Linie eine Technologie. Unser Startup können wir uns aufgrund der Geschichte und unserer Intention aber nicht ohne den sozialen Aspekt vorstellen. Technische Lösungen für Menschen mit Handicap zu entwickeln, ist uns schon sehr wichtig. Es ist ein sehr spannender Bereich mit viel Potential für die Zukunft.

Es hört aber nicht da auf. Unser System könnte man zum Beispiel auf den medizinischen Markt ausweiten. Wenn man an Unfallopfer auf Intensivstationen im Krankenhaus denkt, sind das oft Menschen, die auf einen Schlag ihre Bewegungsfreiheit verloren haben und plötzlich vielleicht nicht mehr in der Lage sind, ihr Smartphone zu bedienen um Kontakt mit Familie und Freunden zu halten. Da wäre eine einfache, alternative Nutzung bestimmt sehr sinnvoll.

Außerdem könnten wir uns auch vorstellen, Lösungen für die Industrie anzubieten. Zum Beispiel überall dort, wo smarte Geräte verwendet werden und die Interaktion zwischen Mensch und Technik optimiert werden muss. Zum einen könnten Prozesse dadurch beschleunigt werden und zum anderen würde es auch die Benutzung von Geräten in Situationen ermöglichen, in denen die Hände nicht frei sind.

So gibt es noch einige Anwendungsgebiete, auf die man auf Eye-Tracking basierende Systeme ausweiten könnte.

Wo steht euer Start Up aktuell?

Kiril: Vor kurzem ergab sich die Möglichkeit einer Kooperation, durch welche wir Feedback zur konkreten Anwendung unseres Konzepts einholen konnten. Aktuell arbeiten wir an einer Schnittstelle, die speziell auf die erleichterte Bedienung per Blick von Programmen ausgelegt ist und als Zusatz installiert werden kann, um z.B. Smart Home Geräte zu steuern, Telefonate am Mobiltelefon zu tätigen und vieles mehr. Die Integration von Blicksteuerung könnte das Leben für Menschen also um einiges einfacher machen. Mittlerweile konnten wir auch das Patent für unser blickgesteuertes System einreichen, worüber wir uns sehr freuen. So steht unserer weiteren Entwicklung nichts mehr im Wege.

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